Notfallmedizin
Sauerstoff für Schwerverletzte: neue Erkenntnisse
Eine internationale Studie mit Beteiligung der Universität Bern und der Rega stellt die gängige Praxis der Sauerstoffgabe bei Schwerverletzten in Frage. Weniger Sauerstoff könnte sicherer sein und Komplikationen wie Lungenschäden verhindern.
Wer einen schweren Unfall erleidet, erhält heute von allen Rettungsdiensten der Welt frühzeitig hochdosierten Sauerstoff. Dieses Vorgehen wird seit Jahrzehnten in internationalen Leitlinien empfohlen und in der medizinischen Ausbildung gelehrt. Sauerstoff als Medikament ist weit verbreitet, schnell verfügbar, günstig – und lebensnotwendig. Was spricht also gegen die gängige Praxis der frühen und hochdosierten Sauerstoffgabe bei Schwerverletzten?
Dieser Frage ging eine internationalen Studie nach, an der Forschende der Universität Bern zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus Dänemark, den Niederlanden und Deutschland beteiligt waren. Insgesamt nahmen fünf grosse Traumazentren und 15 Rettungshubschrauber an der Studie teil – in der Schweiz das Inselspital Bern sowie drei Hubschrauber der Schweizerischen Rettungsflugwacht Rega. Mit insgesamt 1’508 Teilnehmenden wurde untersucht, ob eine geringere Sauerstoffgabe gegenüber der hochdosierten Sauerstoffgabe in den ersten acht Stunden nach einem physischen Trauma die Sterberate oder Komplikationen binnen 30 Tagen verringert. Es handelt sich um die weltweit mit Abstand grösste Studie zur Sauerstoffgabe bei Schwerverletzten. Die Ergebnisse wurden kürzlich in der Fachzeitschrift JAMA veröffentlicht.
Ethische Studienaspekte
Die Teilnehmenden erhielten in den ersten acht Stunden nach einem Unfall entweder die übliche, hochdosierte Sauerstoffgabe oder aber nur so viel, wie sie für ausreichend Sauerstoff im Blut benötigten. Zwei ethische Fragen mussten vorab geklärt werden: Darf Schwerverletzten die Standardtherapie vorenthalten werden? Die prüfende Ethikkommission hat dies akzeptiert, da die Sauerstoffkonzentration bei Unfallopfern routinemässig immer überwacht wird. Zudem wurde bis vor Kurzem angenommen, dass Sauerstoff keine Nebenwirkungen hat und im Zweifelsfall eher nützlich ist. Neuere Erkenntnisse stellen diese Annahme jedoch in Frage, so dass es bisher kaum belastbare Evidenz für einen Nutzen von hochdosiertem Sauerstoff gibt.
Die Frage, ob nicht urteilsfähige, da beispielsweise bewusstlose Patientinnen und Patienten in diese Studie einbezogen werden dürfen, konnte aus ethischer Sicht ebenfalls bejaht werden, da das Humanforschungsgesetz erlaubt, dass Schwerverletzte oder ihre Angehörigen in Notfallsituationen nachträglich in die Studienteilnahme einwilligen – oder diese widerrufen. Die Teilnehmenden konnten daher im Rega-Helikopter oder in der Notaufnahme einer der beiden Sauerstoff-Behandlungen zugeteilt werden, dem wissenschaftlich-methodischen Standard für eine experimentelle Studie gemäss nach dem Zufallsprinzip. Die Genesung der Patienten und Patientinnen wurde dann einen Monat lang beobachtet und die dabei erhobenen Daten in die Studie einbezogen.
Keine Unterschiede zwischen beiden Therapien
Zu den Ergebnissen der Studie stellt Wolf Hautz, Co-Autor der Studie und Leiter für invasive Notfallinterventionen am Inselspital, Universitätsspital Bern, fest: «Sauerstoff ist lebensnotwendig – ohne ihn stirbt der Mensch innerhalb weniger Minuten. Eine geringere Sauerstoffgabe führte im Vergleich zur hochdosierten Sauerstoffgabe aber überraschenderweise zu keinem Unterschied hinsichtlich Sterberate oder Komplikationen der Atemwege. Dies stellt das langjährige Dogma ‹Schwerverletzte brauchen viel Sauerstoff› grundsätzlich in Frage.»
Zu viel Sauerstoff kann sogar schädlich sein: Neue Studien weisen darauf hin, dass hochdosierte Sauerstoffgaben bei Neugeborenen zu schweren Schäden führen können. Auch bei Schlaganfall- und Herzinfarktbetroffenen zeigt sich, dass die Genesung einen besseren Verlauf nimmt, wenn die Patienten und Patientinnen genug, aber eben nicht zu viel Sauerstoff erhalten. Die Studie legt nahe, dass auch bei Schwerverletzten eine massvolle Sauerstoffgabe in Betracht gezogen werden sollte, um Komplikationen wie Entzündungsreaktionen und Lungenschäden zu vermeiden.
Die Studie gibt Anlass zur Hoffnung: «Trotz der grossen ethischen, rechtlichen, medizinischen und logistischen Herausforderungen, die die Forschung in hochakuten Notfallsituationen mit sich bringt, ist es möglich, in enger Zusammenarbeit solche Studien erfolgreich durchzuführen», sagt Roland Albrecht, Co-Autor der Studie und Chefarzt der Rega.
Zur Person
Wolf Hautz
ist Leitender Arzt für invasive Notfallinterventionen an der Universitätsklinik für Notfallmedizin des Inselspitals, Universitätsspital Bern. © Inselspital
Zur Person
Roland Albrecht
ist Facharzt FMH für Anästhesie, Intensiv- und Notfallmedizin und Chefarzt der Rega. © Rega
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