Schweizer Dialekte im Wandel

Die Schweizer Dialekte sind ständig im Wandel und weisen regionale Unterschiede auf. Adrian Leemann und sein Team am Center for the Study of Language and Society der Universität Bern haben die Entwicklung der Schweizer Sprache erstmals grossflächig analysiert.

Video Preview Picture

Was versuchen Sie herauszufinden, Adrian Leemann?

Adrian Leemann: Es ist bekannt, dass sich Sprache ständig verändert und dass beispielsweise Jugendliche eher neue Formen verwenden. Ich interessiere mich für neue Ansätze und möchte herausfinden, welche unbekannten Faktoren beim Sprachwandel eine Rolle spielen. Wir untersuchen nun erstmals, inwiefern auch Persönlichkeitsmerkmale der Sprechenden beim Sprachwandel eine Rolle spielen, und haben deshalb Daten über die Persönlichkeit der Sprechenden erhoben. Dabei haben wir herausgefunden, dass extrovertierte Menschen mit niedrigem Pflichtbewusstsein am ehesten neue Formen übernehmen und verbreiten; sie sagen zum Beispiel eher «Themene» statt «Themen». 

Wieso ist das aus wissenschaftlicher Sicht wichtig?

Unsere Forschung ist wichtig, weil sie eine Lücke schliesst. Die letzte flächendeckende Dokumentation zu verschiedenen sprachlichen Ebenen liegt 70 bis 80 Jahre zurück. Die Ergebnisse wurden im achtbändigen Sprachatlas der Deutschen Schweiz publiziert. Dieser liefert beispielsweise phonetische Informationen zu den Dialekten und zeigt regionale Unterschiede auf.  

Heute weiss man, dass sich die Dialekte punktuell verändert haben. Es gibt aber kaum grossflächige Studien, welche die Veränderungen der schweizerdeutschen Dialekte systematisch untersucht haben. Diese Lücke füllen wir nun. Wir haben in den letzten fünf Jahren über 1000 Personen in der Deutschschweiz befragt und die Daten kartiert. So wollen wir herausfinden, in welchen Regionen sich die Sprache am meisten verändert hat und was die Gründe dafür sind. Unsere Forschung soll helfen, Theorien zum Sprachwandel zu verfeinern. 

Ein interessantes Beispiel ist das berndeutsche Wort «schlööfle» (Schlittschuh laufen). In den Daten aus den 1940er und 1950er Jahren kam dieses Wort nur ganz vereinzelt in der Stadt Bern vor. In den aktuellen Daten sahen wir, dass inzwischen ein Grossteil des Kantons Bern «schlööfle» sagt und andere Ausdrücke, wie «schlittschuene», im Kanton Bern mehrheitlich verdrängt wurden. 

Welcher gesellschaftliche Nutzen könnte sich aus Ihrem Forschungsprojekt ergeben? 

Viele Leute sind daran interessiert, wie sich die Kantone und Regionen unterscheiden, auch sprachlich. Unsere Mundart ist ein grosser Teil unserer Identität. Die Leute sind deshalb sehr interessiert an den verschiedenen Schweizer Dialekten. 

Die Schweizer Dialektvielfalt kann aber auch zu lustigen Situationen führen. In der Stadt Freiburg nennt man die Kruste, die beim Fondue am Schluss in der Pfanne übrigbleibt, «Religieuse». Stellen Sie sich vor, jemand fragt, ob man die «Religieuse» essen möchte. Solche Dinge können für Gesprächsstoff sorgen.

Zur Person

Adrian Leemann

hat in Bern promoviert. Anschliessend war er Postdoc an den Universitäten Zürich und Cambridge, bevor er 2017 Assistenzprofessor für Sprachvariation und -wandel an der University of Lancaster (UK) wurde. Ab September 2019 arbeitete er als Professor (SNSF Eccellenza) am Center for the Study of Language and Society (CSLS) der Universität Bern. Seit 2022 ist er ordentlicher Professor am Institut für Germanistik der Universität Bern und erforscht Sprache und Gesellschaft, (forensische) Phonetik, Dialekte und innovative Methoden der Linguistik.

Was fasziniert Sie persönlich an diesem Forschungsprojekt?

Regionale Sprachunterschiede, aber auch die unterschiedlichen Stimmqualitäten der Menschen faszinieren mich. Die forensische Anwendung interessiert mich zudem sehr. Dialektologische Forschung kann zum Beispiel bei Drohanrufen sehr nützlich sein. Die Sprache kann Hinweise zu Herkunft, Alter, Geschlecht und weiteren sozialen Faktoren der Person geben, die anruft.

Wir verfeinern also Theorien und gewinnen theoretische Erkenntnisse über die Anwendbarkeit sprachwissenschaftlicher Forschung. Das gefällt mir besonders an diesem Forschungsgebiet: das Gebiet ist so nah an den Menschen.

Was ist die grösste Herausforderung bei Ihrem Forschungsprojekt?

In unserer Forschung wollten wir historische Daten mit aktuellen Daten vergleichen. Für die historischen Daten aus dem Sprachatlas der Deutschen Schweiz wurden über 500 Ortschaften abgefragt. Das wäre heute innerhalb von fünf Jahren nicht machbar. Schlussendlich beschränkten wir uns auf 127 Ortschaften. Bei der Auswahl mussten wir darauf achten, dass die Vielfalt der Dialekte abgebildet ist und aussagekräftig untersucht werden kann.

Wie ist das Forschungsprojekt finanziert?

Das Projekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert. Auch die Forschungsstiftung der Uni Bern hat uns unterstützt und den Kauf von Geräten ermöglicht.

Dieses Interview erscheint auch im Anzeiger Region Bern.

Dialäktatlas

Im November veröffentlicht Adrian Leemann in Zusammenarbeit mit Carina Steiner, Melanie Studerus, Linus Oberholzer, Péter Jeszenszky, Fabian Tomaschek und Simon Kistler den Dialäktatlas – das Resultat eines fünfjährigen Forschungsprojekts. Der Dialäktatlas ist eine kartierte Sammlung von fast 200 Schweizerdeutschen Sprachphänomenen und den regionalen Variationen und zeigt die Veränderung der Schweizerdeutschen Sprache von 1950 bis heute auf. Der Atlas liefert spannende Einblicke in die Vielfalt der Schweizer Mundart und ihre Entwicklung.

uniAKTUELL-Newsletter abonnieren

Entdecken Sie Geschichten rund um die Forschung an der Universität Bern und die Menschen dahinter.

Oben