Schweizer Museen stellen sich ihrer Verantwortung

Immer mehr Länder sind bereit, koloniale Raubkunst zurückzugeben. Der Schweizer Weg zur Restitution der Benin-Bronzen an Nigeria ist einzigartig: Er ist bottom-up entstanden, angetrieben vom Gerechtigkeitssinn und vom Interesse von Kuratorinnen und Kuratoren an kulturellem Austausch und Wissenstransfer.

Text: Barbara Spycher 16. Oktober 2024

Gürtelmaske aus Bronze. Hergestellt vermutlich von der Königlichen Gilde der Bronzegiesser im Königspalast von Benin. Gemäss Provenienzforschung (Stand: Januar 2023) wahrscheinlich nicht von britischen Kolonialtruppen 1897 geplündert. © Bernisches Historisches Museum, Bild: Christine Moor

1897 griffen britische Kolonialtruppen die Hauptstadt des Königreichs Benin – im heutigen Nigeria – an, plünderten den Königspalast und entwendeten zwischen 5000 und 10 000 Kunstobjekte. Diese filigranen Werke aus Bronze, Messing, Elfenbein oder Holz gelangten in der Folge als sogenannte Benin-Bronzen über den Kunsthandel in private und öffentliche Sammlungen in der ganzen Welt – auch in der Schweiz.

Bronzeglocke. Hergestellt vermutlich von der Königlichen Gilde der Bronzegiesser in Benin. Gemäss Provenienzforschung (Stand: Januar 2023) wahrscheinlich nicht von britischen Kolonialtruppen 1897 geplündert. © Bernisches Historisches Museum, Bild: Christine Moor

Diese Benin-Bronzen sind zu einem zentralen Symbol für den Umgang mit Raubkunst aus Afrika geworden. Denn ein Grossteil des afrikanischen kulturellen Erbes wurde während der Kolonialzeit geraubt, enteignet, erpresst oder zwangsverkauft – und wird seither in Museen im globalen Norden ausgestellt. Erst in den letzten Jahren hat in westlichen Ländern ein Umdenken eingesetzt und ist die Bereitschaft gewachsen, den afrikanischen Ländern ihr kulturelles Erbe zurückzugeben – allen voran die Benin-Bronzen. «Der ‹Vorteil› der Benin-Artefakte ist, dass es keine Zweifel an der Illegalität des britischen Raubzugs gibt», erklärt Lucky Igohosa Ugbudian, nigerianischer Gastwissenschaftler an der Universität Bern.

Figurengruppe aus Messing. Hergestellt vermutlich von der Königlichen Gilde der Bronzegiesser in Benin. Gemäss Provenienzforschung (Stand: Januar 2023) wahrscheinlich nicht von britischen Kolonialtruppen 1897 geplündert. © Bernisches Historisches Museum, Bild: Christine Moor

Bereits in den 1930er-Jahren verlangte Nigeria das erste Mal die Rückgabe dieser geplünderten Artefakte – allerdings vergeblich. Erst in den letzten Jahren haben erste westliche Länder wie die USA und Deutschland die Eigentumsrechte der geplünderten Benin-Artefakte an Nigeria zurückgegeben, andere – etwa Frankreich oder die Niederlande – haben ihre Bereitschaft signalisiert. 2023 haben sich auch Schweizer Museen dazu bereit erklärt – auch wenn noch kein formales Gesuch aus Nigeria eingetroffen ist. Doch die zur Rückgabe nötigen Schritte wurden eingeleitet. Im Rahmen seines einjährigen Forschungsstipendiums an der Universität Bern hat der Historiker Lucky Igohosa Ugbudian die Restitutionsdebatte in der Schweiz mit anderen Ländern verglichen und sagt: «Das Schweizer Beispiel ist weltweit einzigartig: Denn es ist das einzige, das bottom-up entstanden ist.»

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Initiative ergriffen

Während in allen anderen Ländern die Initiative zur Restitution der Benin-Artefakte vom Staat ausgegangen sei, in Zusammenarbeit mit dem Museumsmanagement, hätten in der Schweiz Mitarbeitende der Museen die Sache selbst in die Hand genommen, erzählt Ugbudian. Konkret sind es die Kuratorinnen und Kuratoren der acht öffentlichen Schweizer Museen, die im Besitz von Benin-Artefakten sind, darunter das Museum Rietberg in Zürich, das Völkerkundemuseum der Universität Zürich, das Historische Museum in Bern und das Museum der Kulturen Basel.

Historikerin Enibokun Uzebu-Imarhiagbe von der University of Benin (rechts) und Samuel Bachmann vom Bernischen Historischen Museum (BHM) untersuchen einige der fraglichen Objekte. © BHM, Bild: Marina Berazategui

Diese Kuratorinnen und Kuratoren hatten die Restitutionsdebatten in anderen Ländern verfolgt und wollten sich ihrer Verantwortung stellen. Auf Initiative des Museums Rietberg trafen sie sich, um die Herkunftsforschung der Benin-Bronzen in ihren Sammlungen anzudenken. Schnell machten sie Nägel mit Köpfen: Sie holten die Zustimmung der Museumsleitungen und -besitzer ein und fragten beim Bundesamt für Kultur um Fördergelder an. Diese wurden gesprochen, die «Benin Initiative Schweiz» im Jahr 2021 lanciert: In diesem Verbund erforschten die Museen die Herkunft der Benin-Artefakte in ihren Sammlungen, in enger Zusammenarbeit mit nigerianischen Wissenschaftlerinnen und Akteuren. Im Februar 2023 verkündeten sie, dass über die Hälfte der 96 Benin-Artefakte in Schweizer Sammlungen geraubt oder wahrscheinlich geraubt sei – und dass die Museen bereit seien, ihre Eigentumsrechte an Nigeria zu übertragen.

Historikerin Enibokun Uzebu-Imarhiagbe von der University of Benin (links) und Alice Hertzog von der Benin Initiative Schweiz (BIS) untersuchen im Depot des Bernischen Historischen Museum (BHM) eines der fraglichen Objekte. © BHM, Bild: Marina Berazategui

Lucky Igohosa Ugbudian ist beeindruckt von den Schweizer Kuratorinnen und Kuratoren: «Ihre Initiative, ihr Engagement und ihre Leidenschaft machen das Schweizer Beispiel einzigartig. Sie sind angetrieben von einem starken Gerechtigkeitssinn und einem grossen Interesse an einem kulturellen Austausch.» Für sie sei völlig klar: «Wir können doch keine Gegenstände behalten, die jemand anderem gestohlen wurden!» Die Frage, warum ähnlich gesinnte Kuratorinnen und Kuratoren in anderen Ländern nicht die Initiative ergriffen haben, kann Ugbudian nicht abschliessend beantworten. Dazu bräuchte es weiterführende Forschung. Er interessiert sich insbesondere dafür, die Schweiz und Deutschland vertiefter zu vergleichen, und stellt die Frage in den Raum: «Hätten die deutschen Kuratorinnen und Kuratoren den Mut gehabt und wären sie zahlreich genug gewesen, um Herkunftsforschung einzufordern?» Eine mögliche These sei, dass das Hierarchiedenken in Deutschland ausgeprägter sei und solche Initiativen der Belegschaft erschwere.

Angst vor leergeräumten Museen

Die Initiative der Schweizer Kuratorinnen und Kuratoren wurde natürlich beeinflusst von den Restitutionsdebatten in anderen europäischen Ländern. In den letzten Jahren hat sich in Europa die Haltung zu Raubkunst fundamental gewandelt. Ugbudian hat zurückverfolgt, wie es dazu kam. Denn als Nigeria in den 1930er-Jahren das erste Mal die Benin-Artefakte zurückforderte, kam ein klares Nein. Ebenso als in den 1960er- und 1970er-Jahren Gruppierungen aus verschiedenen afrikanischen Staaten koloniale Raubkunst zurückverlangten. Gründe für die Absage: die Angst vor leergeräumten Museen und wirtschaftlichen Einbussen. Noch im Jahr 2002 verabschiedeten 18 Museen – insbesondere aus Nordamerika und Grossbritannien – eine Erklärung, in der sie Kulturgut kolonialer Herkunft als universelles Erbe der Menschheit klassifizierten, das deswegen nicht zurückgegeben werden müsse. Wieder blieben Proteste folgenlos.

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«Afrika»

Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aktuelles Fokusthema: «Afrika»

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Gestürzte Statuen und Macrons Erklärung

Das änderte sich erst mit der Black-Lives-Matter-Bewegung, die 2013 in den USA ihren Anfang nahm. In der Folge stürzten Aktivistinnen und Aktivisten die Statuen von kolonialen Unterdrückern. «Damit sandten sie eine klare Message an die Museen, dass sie ihren Umgang mit ihren illegal erworbenen Kulturgütern korrigieren müssen», ordnet Ugbudian ein. Doch der entscheidendste Moment war, als der französische Präsident Emmanuel Macron 2017 auf einer Reise in Burkina Faso erklärte, dass Frankreich alle geraubten Kulturgüter den Ursprungsländern zurückgeben werde. «Diese Botschaft war die Folge all der vorangegangenen Bemühungen der afrikanischen Community und sandte einen unüberhörbaren Aufruf an alle westlichen Regierungen», sagt Ugbudian. Mittlerweile hat sich Frankreich bereit erklärt, die Eigentümerschaft der Benin-Artefakte an Nigeria abzutreten, Deutschland hat dies bereits vollzogen – bei rund 1100 Objekten. Physisch befinden sich die meisten Benin-Bronzen weiterhin in Europa. In Nigeria soll dafür zuerst ein Museum gebaut werden.

Intensive Zusammenarbeit mit Nigeria

In den Restitutionsdebatten nimmt die sogenannte Provenienzforschung eine zentrale Rolle ein. Dabei geht es darum, die Herkunft jedes einzelnen Kunstobjekts zurückzuverfolgen und herauszufinden, ob es in einem kolonialen Kontext unrechtmässig erworben wurde. Diese Forschung sei aufwendig, doch sie sei gleichzeitig auch eine immense Chance für interkulturellen Austausch und Wissenstransfer, so Ugbudian. Auch diesbezüglich sei der Schweizer Weg besonders: «Die Schweizer Kuratorinnen und Kuratoren waren ausserordentlich interessiert, ihr Verständnis für die Artefakte zu vertiefen und mit nigerianischen Partnerinnen und Partnern gemeinschaftlich zusammenzuarbeiten.» Sie tauschten sich mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Museen, Kunsthandwerk, der Regierung und des Palastes aus. «Der Austausch war breiter abgestützt und intensiver, als andere Länder dies handhabten.»

«Die Rückgabe der Artefakte ist zentral, um Gerechtigkeit herzustellen.»

Lucky Igohosa Ugbudian

Bei dieser Zusammenarbeit ging es der «Benin Schweiz Initiative» etwa darum, Lücken in den Provenienzen zu schliessen, die Objektbiografien vertiefter zu verstehen und die nigerianische Perspektive in Ausstellungen zu stärken. Es fanden nicht nur Besuche und Workshops in der Schweiz und in Nigeria statt, sondern es ist auch eine gemeinsam kuratierte Ausstellung der Benin-Artefakte angedacht. Nicht zuletzt sollen diese Erfahrungen als Modell für die Kooperation mit anderen Herkunftsländern von kolonialer Kunst dienen.

Zur Person

Bild: Dres Hubacher

Lucky Igohosa Ugbudian

ist Historiker und Senior Lecturer an der Alex Ekwueme Federal University Ndufu-Alike in Nigeria. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem kulturelles Erbe, globale Geschichte und internationale Studien. 2023/2024 forschte er im Rahmen eines Exzellenz-Stipendiums der Schweizer Regierung am Historischen Institut der Universität Bern zum Schweizer Weg zur Restitution der Benin-Artefakte.

Kontakt

Denn das Thema wird die hiesigen Museen noch länger beschäftigen. Nebst den Benin-Artefakten lagern noch unzählige koloniale Kulturgüter in europäischen Museen – laut einer Schätzung sollen es 90 Prozent aller afrikanischen Kulturschätze sein. Das Beispiel der Benin-Bronzen zeigt, was der Verlust dieses kulturellen Erbes für die Herkunftsländer bedeutet. Denn mit den Artefakten wurde Nigeria auch seiner Geschichte, seiner spirituellen Götter, seiner kulturellen Figuren und historischen Führer beraubt. «Einige Artefakte dienten als Königsabbild, andere zur Dokumentation des damaligen Wissens, manche hatten eine spirituelle Bedeutung», erzählt Lucky Igohosa Ugbudian. «Ihre Rückgabe ist ein zentraler Schritt, um Gerechtigkeit herzustellen.»

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