Neu auf der grossen Bühne: Handbuch Theater und Tanz

Als das «neue Standardwerk der Theater- und Tanzwissenschaft» wird ein fast 1’000 Seiten starker Band angepriesen: Drei Forscherinnen vom Berner Institut für Theaterwissenschaft legen ein gewichtiges Handbuch über die Bühnenkünste vor.

Das Titelbild von Theater und Tanz: Handbuch für Wissenschaft und Studium zeigt eine Szene aus DIEstinguished, einem Stück vom Ensemble der Genfer Choreografin La Ribot. © Fotografie: Nicolas Montandon

«Ihr beschäftigt die gesamte Theater- und Tanzwissenschaft aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Gefühlt alle, die im deutschsprachigen Raum zu Darstellenden Künsten forschen, schreiben nur noch für dieses Handbuch!» Diese (mehr oder weniger scherzhaft gemeinte) Klage bekamen wir zu hören, wenn wir in den vergangenen zwei Jahren auf Leute vom Fach trafen.

Wir, das sind die Theaterhistorikerin Beate Hochholdinger-Reiterer, die Tanzwissenschaftlerin Christina Thurner und die Theater- und Tanzwissenschaftlerin Julia Wehren. Alle drei forschen und lehren wir am Institut für Theaterwissenschaft (ITW) der Universität Bern, dem einzigen theater- und tanzwissenschaftlichen Institut an einer Schweizer Universität und dem kleinsten im deutschen Sprachraum.

Über das Handbuch

Hochholdinger-Reiterer, Beate; Thurner, Christina; Wehren, Julia (Hg.): Theater und Tanz. Handbuch für Wissenschaft und Studium. Baden-Baden: Nomos, Rombach Wissenschaft 2023.

Im Mai 2021 haben wir eine Anfrage des Nomos/Rombach-Verlags angenommen, als Herausgeberinnen ein Handbuch für Wissenschaft und Studium im Bereich Theater und Tanz zu konzipieren und umzusetzen. Zwei von uns mussten erst dazu überredet werden, denn ein solches Vorhaben bedeutet einen immensen Arbeitsaufwand. Aber es hat sich gelohnt. Wir Herausgeberinnen und alle, denen wir davon erzählt hatten und die wir überzeugen konnten mitzumachen, fanden, dass es ein derartiges Kompendium braucht.

Ein Beitrag beleuchtet die Forschung zu Kinder- und Jugendtheater. Im Bild das Stück Zusammen bauen von Gabi dan Droste und Martin Nachbar (D), 2019 © Dieter Hartwig.

1949 ist erst- und letztmals ein Handbuch der deutschsprachigen Theaterwissenschaft erschienen, 1997 eine auf die österreichische Praxis ausgerichtete Monografie, die den Titel Handbuch Theater & Tanz trägt; es sind seither verschiedene Lexika aus dem einen oder dem anderen Gebiet entstanden, aber kein so umfassendes Handbuch, das wie unser Gemeinschaftswerk so viele Perspektiven vereint, die noch dazu in ihrem Fokus Theater und Tanz verbinden.

Theater reflektiert die Welt

An wen soll sich das Buch richten und welche Interessen soll es bedienen? Warum wählt jemand Theater- oder Tanzwissenschaft als Studienfach, als Arbeitsgebiet oder will aus reiner Neugier etwas über die Darstellenden Künste wissen? Vielleicht, weil sich mit und über Theater und Tanz so vieles reflektieren lässt, was uns alle betrifft: unser (Zusammen-)Leben, unsere (Um-)Welt, alle möglichen oder unmöglichen Wirkungs- und Erfahrungsräume, unsere und andere Zeiten, Gefühle, Stimmungen, Diskurse, Kritiken, Träume und so weiter. All das meint und ist Theater in all seinen Formen; all das wird in den performativen Künsten verhandelt und in der Theater- und Tanzwissenschaft untersucht.

«Mit und über Theater und Tanz wird verhandelt, was uns alle betrifft»

Wie breit und wie anschlussfähig die Theater- und Tanzwissenschaft mittlerweile ist, wurde uns bei der Planung und Umsetzung dieses Handbuches nochmals so richtig bewusst. Nicht nur die Geschichte(n) des Fachs, auch das Spektrum von Definitionen und Grundbegriffen, Methoden und Theorien sowie Arbeitsfeldern ist breit, reich und divers. Es lässt sich damit – wie man am Ergebnis sieht – spielend ein Band füllen. Es liessen sich eigentlich gleich mehrere Bände füllen.

Wir haben aus der Vielzahl an Ideen ausgewählt, eingeteilt und aufgeteilt, und schliesslich ist das Handbuch Theater und Tanz in vier Kapiteln und zahlreichen Unterkapiteln entstanden. Artikel zum Tragischen und zum Komischen finden sich da ebenso wie zur Tanzanthropologie, zur Psychoanalyse oder zu den Digital Humanities im Kontext der Theaterwissenschaft; andere Beiträge befassen sich mit Inklusivem Theater, mit Zirkusformen, Kinder- und Jugendtheater, Performance, Festivals und, und, und. In engem Kontakt und inhaltlichem Austausch mit den 77 Beitragenden entstanden 97 Artikel, die allesamt den aktuellen Stand der Forschung reflektieren, historische und aktuelle Positionen und Diskurse formulieren, Forschungslücken benennen und im Zusammendenken von Theater und Tanz neue und mitunter überraschende Perspektiven aufzeigen. Beispielsweise wurde uns klar, wie unterschiedlich der Verlauf der beiden Fachgeschichten ist, aber auch, wie sehr die Disziplinen methodisch voneinander profitieren können.

Theater- und Tanzfotografie wird zum Beispiel anhand der Bild-Serie von André Adolphe Eugène Disdéri diskutiert: Rollenporträt von Sarah Bernhardt als Cordelia in König Lear von William Shakespeare, Théâtre de l’Odéon, April 1868, Paris ca. 1868, Albumin 20,0 x 24,0 cm, bpk, RMN – Grand Palais, Paris).

Es war uns nicht nur ein Anliegen, möglichst vielfältig Themen, Gegenstände, Perspektiven, Zugänge und Ansätze zu versammeln, sondern auch möglichst viele Fachpersonen der deutschsprachigen Theater- und Tanzwissenschaft einzubinden und zu Wort kommen zu lassen. Einige, die wir angefragt haben, mussten unsere Einladung aus verschiedenen und verständlichen Gründen ausschlagen; aber viele, höchst erfreulich viele haben zugesagt und mitgemacht. Die Schreibenden haben sich die Mühe gemacht, in ihren Artikeln je einem ‹Gegenstand› der Theater- und/oder Tanzwissenschaft auf den Grund zu gehen, ihn zu verorten, darzustellen, und zwar so, dass sowohl versierte Fachleute wie auch neugierige Studierende oder interessierte Laien einen fundierten und gleichzeitig verständlichen Einblick bekommen. Wir konnten alle vorgesehenen Artikel vergeben und kein einziger musste – trotz einiger Rückzüge und Umverteilungen – gestrichen werden.

Arbeit mit herausfordernden Hindernissen

Die Arbeit am Handbuch bedeutete nicht nur für uns, die Herausgeberinnen, sondern für jeden Autor und jede Lektorin und all die weiteren Arbeitskräfte, die an diesem Buch mitgewirkt haben, einen enormen Aufwand, der noch dazu in eine schwierige, krisenhafte Zeit fiel. Viele hatten mit Coronaerkrankungen, deren Nachwirkungen und Auswirkungen auch auf das familiäre und berufliche Umfeld zu kämpfen und waren mit einem pandemiebedingt erschwerten Semesterbetrieb konfrontiert. Was wir alles gehört haben, an (fraglos berechtigten) Gründen für verspätete Textabgaben! Vom verloren gegangenen handschriftlichen Artikelmanuskript über aufwändige interkontinentale Umzüge bis hin zu andauernd geschlossenen Kitas reichten die Schreibhinderungsgründe. Und doch ist es geschafft: Die Artikel, die Bilder, das Literaturverzeichnis, die Register – das Handbuch ist da und wir freuen uns!

Viele haben auch nicht-schreibend mitgeholfen – beim Verlag und bei uns im Institut. Unsere Hilfsassistentinnen Tabitha Eberli-Zurbrügg, Sari Pamer, Salome Rickenbacher und Julia Wechsler haben tatkräftig mitgewirkt. Mit ihren Adleraugen haben sie unter anderem bei der Stylesheet-, Literatur-, Fahnenkontrolle und bei der Vorbereitung der Register geholfen und ihre ersten Erfahrungen mit einem Publikationsgrossprojekt gemacht.

Die Herausgeberinnen Christina Thurner, Beate Hochholdinger-Reiterer und Julia Wehren (von links nach rechts) forschen und lehren am Institut für Theaterwissenschaft der Uni Bern. © Universität Bern, Bild: Julia Wechsler

Eine Knacknuss bildete unversehens die Bild-Auswahl für das Buchcover. Da hatten wir Herausgeberinnen fast 1’000 Seiten Text bewältigt, haben uns immer beim Schreiben und Redigieren ergänzt, und dann schien es kurz, als könnten wir uns just bei dieser letzten Entscheidung nicht einigen. Das eine Bild fand die eine passend, eine andere aber zu plakativ, ein nächstes Sujet war wiederum zweien zu langweilig, zu spezifisch oder zu düster und so weiter. Wir gaben uns schliesslich kompromissbereit, haben aber noch ein letztes Mal neu gesucht – und das Bild, unser Bild gefunden. Es ist eine Fotografie von Nicolas Montandon und zeigt eine Szene aus dem Stück DIEstinguished vom La Ribot Ensemble. Die Choreografin, Regisseurin und Performancekünstlerin La Ribot lebt in Genf und ist von der Schweiz aus international tätig. Sie verbindet mit ihren Arbeiten die Bühnenkünste, indem sie lustvoll deren Grenzen überschreitet. Das, fanden wir, passt genau zu unserem Buch und zu unserem Verständnis von unserer Wissenschaft.

Über das Institut für Theaterwissenschaft

Das Institut für Theaterwissenschaft (ITW) wurde 1992 an der Universität Bern gegründet und ist bis heute das erste und einzige Institut für Theater- und Tanzwissenschaft an einer Schweizer Universität. Ziel ist es, lokale und inter-/nationale Theater- und Tanzphänomene in ihrer ästhetischen, kulturellen, zeitlichen und gesellschaftlichen Verfasstheit zu ergründen. Als Teil der Organisationsstruktur der Philosophisch-historischen Fakultät bietet das ITW Theater- und Tanzwissenschaft auf Bachelor- und Master-Stufe (Studienprogramme) an sowie auf Doktoratsstufe. Die Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Theater- und Tanzgeschichte, Gegenwartstheater und -tanz, Theater- und Tanztheorie sowie Theater- und Tanzästhetik. Das ITW pflegt ein nationales und internationales Netzwerk von vielfältigen Kooperationen im künstlerischen und universitären Bereich. Ein wichtiger Bestandteil des ITW ist der enge Austausch zwischen Fachschaft und Institut, woraus zahlreiche Projekte mit und von Studierenden entstehen (z.B. Workshops, Theaterbesuche, Mentoring-Programme)

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