Was ein Stück Seide aus Westminster Abbey verrät

Ein Forschungsteam um Corinne Mühlemann fand heraus, dass der gleiche Seidenstoff, der dem englischen König Heinrich III. († 1272 n. Chr.) als Siegelhülle diente, auch die Gebeine Karls des Grossen († 814 n. Chr.) im Aachener Karlsschrein umhüllt.

Text: Corinne Mühlemann 30. Dezember 2024

Ein Dokument aus dem Jahr 1267 mit Siegel des englischen Königs Heinrich III. und seidener Siegelhülle aus der Westminster Abbey. Tinte auf Pergament, 38,2 × 36,6 cm, Siegelhülle: 11,9 × 12 cm. © Westminster Abbey (WAM 9464); mit freundlicher Genehmigung des Dekans und des Kapitels von Westminster
Ein Dokument aus dem Jahr 1267 mit Siegel des englischen Königs Heinrich III. und seidener Siegelhülle aus der Westminster Abbey. Tinte auf Pergament, 38,2 × 36,6 cm, Siegelhülle: 11,9 × 12 cm. © Westminster Abbey (WAM 9464); mit freundlicher Genehmigung des Dekans und des Kapitels von Westminster

Ein faszinierender Fund aus Seide verbindet zwei Herrscher über Jahrhunderte hinweg: Am 5. Dezember 2024 titelte The Times: «Westminster Abbey entdeckt eine ‹vielversprechende› Verbindung zu Karl dem Grossen». Grundlage dieser Schlagzeile ist eine Studie des Berner Instituts für Kunstgeschichte zusammen mit Matthew Payne (Westminster Abbey), Helen Wyld (National Museums Scotland) und Elizabeth New (Aberyswyth University), die kurz zuvor in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift The Burlington Magazine erschienen ist.

Unsere Analyse einer mittelalterlichen Siegelhülle zeigt: Der Stoff, der einst das Siegel des englischen Königs Heinrich III. bekleidete, umhüllt auch die Gebeine Karls des Grossen im Aachener Dom. Der seidene Stoff im Karlsschrein ist durch die kunsthistorische Forschung unter dem Namen «Hasenstoff» bekannt geworden.

Detail der Siegelhülle Heinrich III. aus Seidensamit; östlicher Mittelmeerraum/Spanien, 12. Jahrhundert. © Corinne Mühlemann
Detail der Siegelhülle Heinrichs III. aus Seidensamit; östlicher Mittelmeerraum/Spanien, 12. Jahrhundert. © Corinne Mühlemann

Dasselbe Muster – derselbe Stoff?

Das identische Muster der beiden Seidenstoffe, die sich in Westminster Abbey und im Aachener Karlsschrein erhalten haben, zeigt einen Hasen auf seinen Hinterläufen stehend. Daneben ist eine stilisierte Palmette mit Rankenwerk zu erkennen, darüber zwei einander zugewandte Greifvögel. Die Unterschiede liegen nur in der Farbgebung, die durch verschiedenfarbige Schussfäden entsteht – typisch für die sogenannte Samit-Technik, in der im Mittelalter gemusterte Seidenstoffe hergestellt wurden.

Dass es sich um ein und denselben Stoff handelt, konnten wir ausschliessen, denn der Aachener Stoff ist vollständig erhalten, inklusive An- und Abschuss sowie Webkanten. Es fehlt also kein Stück, das für Heinrich III. zur Siegelhülle hätte verarbeitet werden können.

Die Gewebestruktur und Materialien beider Stoffe aber stimmen überein. Dies deutet darauf hin, dass sie höchstwahrscheinlich in derselben Werkstatt und vielleicht sogar auf demselben Webstuhl entstanden sind.

Gegenüberstellung der Aachener «Hasenseide» (links) und des musteridentischen Stoffes der Siegelhülle aus dem Westminster Abbey (rechts). Grün umrahmt ist der sogenannte Musterrapport (die kleinste Einheit eines Musters bei webgemusterten Stoffen), der sich entlang einer unsichtbaren Symmetrieachse spiegelt. © Linkes Bild: Domkapitel Aachen, Bild: Ann Münchow. © Rechtes Bild: Mit freundlicher Genehmigung des Dekans und des Kapitels von Westminster (rechts)
Gegenüberstellung des Aachener «Hasenstoffs» (links) und des musteridentischen Stoffes der Siegelhülle aus dem Westminster Abbey (rechts). Grün umrahmt ist der sogenannte Musterrapport (die kleinste Einheit eines Musters bei webgemusterten Stoffen), der sich entlang einer unsichtbaren Symmetrieachse spiegelt. © Linkes Bild: Domkapitel Aachen, Bild: Ann Münchow. © Rechtes Bild: Mit freundlicher Genehmigung des Dekans und des Kapitels von Westminster (rechts)

Mobilität mittelalterlicher Textilien: Seide aus dem Mittelmeerraum

Aufgrund weiterer erhaltener Seidenstoffe, die in derselben Technik gewebt wurden und vergleichbare Muster aufzeigen, können wir annehmen, dass auch die Stoffe aus Westminster Abbey und Aachener Dom im östlichen Mittelmeerraum oder der iberischen Halbinsel – also der mittelalterlichen islamischen Welt – wohl während des 12. Jahrhunderts gewebt wurden.

Wie der kostbare Stoff nach London kam – ob etwa durch Handel oder als diplomatisches Geschenk – bleibt unklar. Sicher ist: Solche Seidenstoffe waren in Europa begehrt und wurden sorgfältig verwahrt, bis sie eine passende Verwendung fanden. Im konkreten Fall für eine textile Hülle des Siegels des englischen Königs.

Mikrofotografie (58.5-fache Vergrösserung) der Gewebestruktur, die für die Vorderseite der Siegelhülle vom grossen Siegel Heinrichs III. verwendet wurde. © Corinne Mühlemann und Helen Wyld

Das Potenzial textiler Siegelhüllen für die Forschung

Textile Siegelhüllen sind bisher kaum untersucht worden, da sie oft zwischen die Disziplinen der textilen Kunstgeschichte, Geschichtswissenschaft und Archivwissenschaft fallen. Zudem gibt es nur wenige Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker, die sich mit Textilien auskennen und sie in ihren historischen Kontexten einordnen können. Seit 2009 ermöglicht die Universität Bern mit dem spezialisierten Masterprogramm «Geschichte der textilen Künste», Textilien innerhalb der Kunstgeschichte vertiefend zu studieren.

In der Westminster Abbey sind über 60 textile Siegelhüllen mit Wachssiegeln und datierten Pergamentdokumenten erhalten. Dieser geschlossene Korpus bietet eine einzigartige Gelegenheit, mittelalterliche Textilien und die Praktiken der Siegelverhüllung zu erforschen. Jede dieser Hüllen liefert wertvolle Einblicke in die Textilproduktion des Mittelalters und die Migration textiler Objekte – von lokalen (englischen) bis zu globalen Kontexten (islamische Welt, Byzanz).

Wir planen nun ein umfassendes Forschungsprojekt, um die textilen Hüllen mittelalterlicher Siegel anhand des Westminster-Bestands sowie weiterer Sammlungen zu untersuchen.

Angaben zur Publikation

Corinne Mühlemann, Matthew Payne, Helen Wyld, and Elizabeth A. New, Veiled in Precious Cloth: A Seal Bag from Westminster Abbey and its Connections with Charlemagne’s Shrine in Aachen, in The Burlington Magazine, Vol. 166, no. 1461 (2024): 1206-1216.

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