Hier lohnt es sich, den Fluss zu beleben

Fische zählen zu den am stärksten gefährdeten Tieren in der Schweiz, vor allem wegen der verbauten Gewässer. Ein Projekt der Wyss Academy for Nature, der Universität Bern und dem Wasserforschungsinstitut Eawag hilft bei der Renaturierung.

Der Oberlauf der Sense hat Seltenheitswert in der Schweiz: Er ist wild und unverbaut, ein idealer Lebensraum für viele Fischarten.

Der gefrorene Waldboden knirscht unter unseren Schritten, als wir am Ufer der Sense in der Freiburger Gemeinde Plaffeien entlangmarschieren. Hier ist der Fluss 200 bis 300 Meter breit, der Hauptstrom teilt sich in drei Arme. Baumstämme türmen sich, Asthaufen haben sich zu kleinen Dämmen verhakt, vor denen sich das Geschiebe sammelt. «Das ist einer der letzten grossen wilden Flüsse, die allermeisten sind vom Menschen stark in Mitleidenschaft gezogen», erklärt Conor Waldock vom Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern. Das Wasser rauscht über eine Strecke von 30 Kilometern nahezu ungehindert in Richtung Mittelland, eine Seltenheit in unserem Land der zerstückelten Flüsse und Bäche. Durch Hochwasser und mitgeführtes Totholz und Geschiebe modelliert der Fluss regelmässig ein neues Bachbett und breitet sich bis über die Ufer aus.

Der Oberlauf der Sense: «So wild und unverbaut, das hat Seltenheitswert in der Schweiz», sagt der Ökologe Conor Waldock vom Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern.

Vielfältiger Lebensraum

Was oberirdisch chaotisch anmutet, bietet unter dem Wasserspiegel Fischarten wie Bachforelle, Groppe oder Elritze ideale Lebensbedingungen: Zum einen sind viele Fischarten für ihre Fortpflanzung auf Flussabschnitte mit starker Strömung und kiesiger Sohle angewiesen. Zum anderen sind die Nebenarme mit wenig und ruhigem Wasser ideale Kinderstuben für die Jungtiere, die zu wenig Kraft haben, um gegen den Hauptstrom anzuschwimmen. Darüber hinaus bietet angeschwemmtes Totholz Schutz und Struktur für Lebensräume und dient als Substrat für Algen und Insektenlarven, die wiederum eine wichtige Nahrungsquelle für Fische darstellen.

uniAKTUELL-Newsletter abonnieren

Entdecken Sie Geschichten rund um die Forschung an der Universität Bern und die Menschen dahinter.

Der Standort ist aufgrund seines Auencharakters auch wertvoll für den Lebenszyklus vieler anderer Tiere und Pflanzen. So besiedelt die rar gewordene Deutsche Tamariske das Ufer. Waldock ist an diesem Tag mit seinem Institutskollegen Bernhard Wegscheider unterwegs. Beide Wissenschaftler sind derzeit überwiegend im Projekt «Biodiversitätsverlust der Gewässer stoppen – trotz Klimawandel» engagiert.

Wo der Fluss regelmässig über die Ufer tritt und sein Bett selbst modellieren kann, steigt die Biodiversität, erklärt der Flussökologe Bernhard Wegscheider.

«Stopp and go» in Bach und Fluss

Das auf sechs Jahre angelegte Projekt, das die Wyss Academy for Nature, der Kanton Bern und das Bundesamt für Umwelt finanzieren, will den Schweizer Fischen zu mehr Lebensraum verhelfen. Das ist dringend nötig, denn das Projektteam wies nach, dass 90 Prozent der potenziellen Fischlebensräume durch menschliche Einflüsse beeinträchtigt sind; in jedem zweiten Fall sind es mehrere menschliche Eingriffe, die den Fischen das Überleben erschweren. 100‘000 Querbauwerke gibt es hierzulande, im Durchschnitt wird der Längsverlauf der Flüsse alle 600 Meter unterbrochen.

Klimawandel verschärft Problem

Gebaut wurden die Betonbarrieren vor Jahrzehnten, um durch Wasserkraft Strom zu erzeugen, Agrarflächen zu bewässern oder Infrastruktur und Siedlungen vor Hochwasser zu schützen. «Doch Barrieren und Begradigung machen den Wasserraum für viele Fischarten öde und unattraktiv», sagt Waldock. Zudem verhindern die Bauwerke, dass sich die Tiere im Flussnetz fortbewegen können. Das ist besonders kritisch, weil durch den Klimawandel auch die Gewässer wärmer werden und sich einzelne Arten in höhere Gegenden zurückziehen möchten.

«90 Prozent der potenziellen Fischlebensräume sind durch menschliche Einflüsse beeinträchtigt; in jedem zweiten Fall sind es mehrere menschliche Eingriffe.»

Conor Waldock

Auf der Höhe Oberflamatt wird die Sense renaturiert. Die vielfältigen Ufer ermöglichen es Fischen, sich anzusiedeln.

Renaturierungen stossen an Grenzen

Wir halten kurz am Limpach in der Berner Gemeinde Fraubrunnen, einem mageren, überwiegend kanalisierten und begradigten Bächlein. Doch wie sich herausstellt, haben selbst solch banale Kanäle bisweilen biologisch einiges zu bieten: «Unsere Untersuchungen haben hier überraschenderweise acht Fischarten nachgewiesen, auch wenn es nicht die bedrohtesten sind», erklärt Waldock. Vor 80 Jahren, als sich der Limpach zwischendurch im Sumpf verlor, war das Gewässer vermutlich noch artenreicher gewesen. Wahrscheinlich bot es auch Arten wie dem Schlammpeitzger Unterschlupf, die heute in der Schweiz viel seltener oder ausgestorben sind.
Inzwischen ist das Feuchtgebiet trockengelegt, das Torfstechen passé. «Ein Wiedervernässen wäre biologisch wünschenswert, hat aber politisch wohl keine Chance, denn es wäre zu viel Land betroffen», räumt der Biologe ein. Sinnvoll wäre es, immerhin die Bachufer von den Uferverbauungen zu befreien und zu begrünen: «Die Fische brauchen schattige und kühlere Bachabschnitte, um die Sommer zu überstehen, die mit dem Klimawandel immer wärmer werden.»

Das Bächlein Limpach: unscheinbar, begradigt, oft eingedolt und dennoch erstaunlich artenreich.

Ein Damm trennt Lebensräume

Bereits umgesetzt wird die Renaturierung derzeit an einem Abschnitt der Sense auf der Höhe Oberflamatt: Hier wurden die Uferverbauungen entfernt, stattdessen mäandriert der Fluss jetzt auf breiten Kiesbänken. Auch die Emme wird wieder aufgewertet: Im Naturschutzgebiet Ämmeschache-Urtenesumpf wurde ihr ein grosszügiges Bachbett zurückgegeben, sodass es hier fast so wild aussieht wie oben an der Sense. «Auch wenn die Wiederherstellung gelungen ist – es bleibt noch viel zu tun, denn der Effekt wirkt nur bis zum Damm», erklärt Waldock: Im Naturschutzgebiet tummeln sich sieben Fischarten, oberhalb sind es bloss zwei. Aus ökologischer Sicht wäre ein nächster wichtiger Schritt die Wiederherstellung der Längsvernetzung der Emme, da die Wanderhindernisse entlang des gesamten Flusses ein grosses Problem für die Artenvielfalt darstellen.

Ein Damm trennt Lebensräume. Im unteren Abschnitt konnten sieben Fischarten nachgewiesen werden, aber nur zwei überwinden den Damm und stossen in den oberen Bereich vor.

«Barrieren und Begradigung machen den Wasserraum für viele Fischarten öde und unattraktiv.»

Conor Waldock

Betoniert und eingedolt

Wie die anderen Kantone arbeitet auch der Kanton Bern langfristig daran, Gewässerabschnitte zu renaturieren. Doch welcher Fluss und welcher Abschnitt hat Priorität? Macht es Sinn, einen Flussarm zu renaturieren, wenn stromabwärts eine Kaskade von Talsperren das Wandern von Fischen zwischen verschiedenen Habitaten verhindert und die Population verkümmern lässt? Ist eine Revitalisierung sinnvoll, wenn die «fehlende Art», die den neuen Lebensraum besiedeln wird, natürlicherweise hier eigentlich gar nicht leben würde?
Was wir in der Natur besichtigt haben, zeigen die Forscher später im Institut am Bildschirm: Im Rahmen des Projekts erarbeitete das Team eine Studie, um für 15‘000 Messpunkte im Einzugsgebiet von Rhein und Aare zu zeigen, welcher Abschnitt welche Fischarten theoretisch beherbergen könnte. Alle Fliessgewässer sind auf einer digitalen Karte mit verschiedenen Farben markiert. Die Sense etwa ist fast durchgehend blau gefärbt, bis sie bei Laupen in die Saane fliesst. Blau bedeutet: Der Fluss ist quasi ein biodiverser Musterknabe. Doch Blau ist selten auf der Karte. Die meisten Gewässer sind vom Menschen dermassen beeinflusst, dass das Blau zu Grün, Gelb, Violett – oder Rot wechselt. Die Warnfarbe signalisiert, dass das Gewässer selbst für die anspruchslosesten Fischarten kaum mehr bewohnbar ist.

Auf einer digitalen Karte markieren die Forschenden die Gewässer mit unterschiedlichen Farben, die den physischen Zustand des Flusses anzeigen - blau sind Gewässer in natürlichem Zustand, rot sind Gewässer, die stark verändert sind.

KI schätzt «Schattenverbreitung» ein

Die Kartierung basiert auf Erhebungen des Kantons, die das Forschungsteam punktuell durch eigene Fischzählungen ergänzt hat – eine mühselige Angelegenheit, erinnert sich Bernhard Wegscheider: «Die erste Zählung mittels Elektrobefischung machten wir im kalten Januar – den Grossteil der Messreihen legten wir dann auf den Sommer und Herbst.» Die gesamte Datenerhebung war notwendig, um Modelle der sogenannten «erklärbaren künstlichen Intelligenz» zu füttern, eine Neuheit im Schweizer Umweltmanagement. Sie soll dabei helfen, die Auswirkungen auf die einzelnen Arten in den Flüssen zu entschlüsseln und zu erklären.
So konnte das Team herausfinden, wie und wo der Mensch die grössten Auswirkungen hatte. Mit Unterstützung von KI konnte gezeigt werden, dass beispielsweise der hierzulande gefährdete Schneider eigentlich in 40 Prozent der Gewässer leben könnte – aber nur noch in 4 Prozent überlebt hat. «Schattenverbreitung» nennt die Studie das Potenzial, wenn die menschgemachten Eingriffe behoben würden. Waldock: «Wir hoffen, dass diese Erkenntnisse dazu beitragen, die Wiederherstellungsbemühungen zu lenken und die Artenvielfalt der Fische in der Schweiz zu verbessern.»

Eigene Fischzählungen des Forschungsteams zeigten, wo sich welche Arten tummeln. Der Fang erlaubt Rückschlüsse auf die Gewässerqualität.

Wertvolle Köcherfliege

Waldock sieht in den Fischen ein ideales Objekt, um zu zeigen, wie sich Arten unter menschlichem Einfluss entwickeln. «Bei Landtieren ist es komplizierter, sie sind flexibler als Wasserlebewesen. Denn sie können einfacher ausweichen, wenn ihnen der Lebensraum nicht mehr behagt.» Dennoch soll das KI-basierte Konzept bald auch für weitere Tierarten zeigen, wie menschgemachte Eingriffe die Fauna beeinträchtigen – und wie sie möglichst effizient rückgängig gemacht werden können.
Schon in Arbeit sind Erhebungen über Insekten, die in ihrem Larvenstadium im Wasser und später in der Nähe des Wasserlaufs leben. Bernhard Wegscheider: «Unsere Untersuchungen zeigen, dass aufgrund von Pestiziden aus der benachbarten Landwirtschaft die Zahl dieser Kleintiere zurückgeht.» Betroffen sind davon auch jene Vögel, die Wasserinsekten wie Eintags-, Stein- und Köcherfliegen auf dem Speisezettel haben. Fehlen diese Vertreter der sogenannten Makroinvertebraten, finden die Vögel zwar alternatives Futter. Doch weil sich die Larven von Eintagsfliegen & Co. von Algen ernähren, die besonders hochwertige ungesättigte Fettsäuren enthalten, ist die Ausweichkost weniger nährreich. Entsprechend aufwendiger wird für die Vögel die Futtersuche.

Auch Insekten, hier eine Köcherfliegenlarve, sind Teil der Untersuchung.

Das Beispiel zeige, dass es mit der isolierten Renaturierung eines Flussabschnitts nicht getan ist, sagt Wegscheider, man müsse auch Ökosystem und Gesellschaft berücksichtigen: «Im Projektteam sind deshalb auch drei Sozialwissenschaftler vertreten.» Ihre Aufgabe ist es, zu verstehen, weshalb der Vollzug stockt und wie zusammen mit den Beteiligten vor Ort die Biodiversität in den Gewässern verbessert werden kann. Damit soll gewährleistet werden, dass die Gesellschaft die Transformation in einen naturnahen Lebensraum unterstützt und so langfristig sichert.

Das Wissen in die Praxis tragen

Das sechsjährige Projekt wurde bewusst so konzipiert, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Praxis einfliessen können. So sollen die Vollzugsbehörden auf allen Staatsebenen Instrumente erhalten, um den Vollzug der bestehenden Gesetze zu verbessern. Das zweite Standbein des Projekts umfasst deshalb die partizipative Arbeit mit den zuständigen Behörden. Das dafür nötige Praxisverständnis bringt Co-Projektleiter Adrian Aeschlimann vom Schweizerischen Kompetenzzentrum Fischerei (SKF) ein. «Wichtig ist, die relevanten Anspruchsgruppen frühzeitig ins Boot zu holen», sagt Aeschlimann. Er weist auf mögliche Hürden hin, etwa auf die Tatsache, dass allein schon in der kantonalen Verwaltung eine Vielzahl von Stellen involviert sind, wenn es um eine Gewässerrenaturierung geht: «Das geht von der Energiewirtschaft über die Landwirtschaft bis zur Fischereiaufsicht – und häufig fehlt das Wissen über die Bedürfnisse der Biodiversität.» Dazu kommen die für den Wasserbau verantwortlichen Standortgemeinden und je nach Situation weitere Kreise wie Anwohnerschaft und Naturschutzverbände. Das SKF will bei einem Renaturierungsprojekt die Pläne so optimieren, dass das neu gewonnene Wissen schnell eingesetzt wird. «Nicht immer ist die teuerste Massnahme die beste», weiss Aeschlimann. Manchmal sind es kostengünstige Trittsteine – oder besser Trittgewässer – die zur Vernetzung und damit zur massiven Qualitätsverbesserung eines Bachs führen.

Mehr Informationen

Oben