Britta Engelhardt im Porträt
«Ich heile jetzt die Multiple Sklerose!»
Britta Engelhardt ist die erste Direktorin des Theodor-Kocher-Instituts und erforscht seit fast 40 Jahren die Blut-Hirn-Schranken. Dafür erhielt sie kürzlich den Forschungspreis der Schweizerischen MS-Gesellschaft. Die Geschichte einer Frau mit einer Mission.

Als Britta Engelhardt zum ersten Mal Immunzellen unter dem Mikroskop betrachtete, war ihr Interesse geweckt. Sie studierte da bereits Humanbiologie an der Universität Marburg – ein damals noch junger Studiengang mit dem Ziel, Studierende speziell für die medizinische Forschung auszubilden. Um ihr Schwerpunktfach auszuwählen, schnupperte Engelhardt zwei Tage lang am Institut für Immunologie, wo sie Immunzellen mit Pflanzenextrakten aktivierten. «Über Nacht verwandelten sich die kleinen, unscheinbaren Zellen in grosse, völlig anders aussehende Zellen», erinnert sich die Forscherin. In diesem Moment war für sie klar: Sie wollte noch mehr wissen, wollte verstehen, wie das Immunsystem funktioniert.
Eine junge Frau mit einer Mission
Die zwei Jahre Vertiefung waren intensiv – auch weil sie nur vier Studentinnen waren, betreut von einem Professor. Dieser unterstützte Engelhardt, als sie noch vor Abschluss ihres Studiums Kontakt zum Max-Planck-Institut in Würzburg aufnahm, um dort ihre Diplomarbeit in der klinischen Forschungsgruppe für Multiple Sklerose zu machen. Besonders motiviert dazu war sie, da eine Bekannte von ihr an der heimtückischen Autoimmunerkrankung litt, für die es damals noch kaum Behandlungsmöglichkeiten gab.
MS: «Eine Krankheit mit 1'000 Gesichtern»
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch fortschreitende, entzündliche Erkrankung, bei der Immunzellen ins Zentrale Nervensystem (ZNS) eindringen und dort die Umhüllung der Nervenfasern und in der Folge die Nervenzellen selbst angreifen. Dies stört die Signalübertragung und führt zu Symptomen wie Sehstörungen, Taubheitsgefühl, Muskelschwäche, Koordinationsstörungen, Schmerzen und Fatigue – aber die Symptome variieren stark, abhängig davon, wo genau und wie stark das ZNS angegriffen wird. Deshalb wird MS oft als «Krankheit mit 1’000 Gesichtern» bezeichnet. Nach Schätzungen der Schweizerischen MS-Gesellschaft leben in der Schweiz rund 18’000 Menschen mit MS. Frauen sind dreimal häufiger betroffen als Männer. Die genaue Ursache ist noch immer unbekannt, es wird jedoch ein Zusammenspiel von genetischen und Umweltfaktoren vermutet.
Mehr Infos unter: https://www.multiplesklerose.ch/de/
«Ich war eine junge Frau mit einer Mission, und beschloss: Ich heile jetzt die Multiple Sklerose!» Dazu wollte sie nach Würzburg, wo Hartmut Wekerle als einer der ersten in Europa T-Zellen im Labor kultivierte. T-Zellen sind Immunzellen, die bei Multipler Sklerose autoaggressiv werden und ins Zentrale Nervensystem eindringen.
«Eigentlich ist das Max-Planck-Institut für etablierte Forschende, die Nobelpreiserkenntnisse anstreben», sagt Engelhardt und lacht. «Aber sie haben mich tatsächlich genommen.» Sie machte dort ihre Diplomarbeit und nach ihrem Studienabschluss 1987 auch ihre Doktorarbeit, die sie 1991 abschloss. Beides zur Wanderung von Immunzellen und dazu, wie sie die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Oder wie sie betont: die Blut-Hirn-Schranken, im Plural.
Veränderte Blut-Hirn-Schranken bei Menschen mit MS
Diese schützenden Barrieren zwischen dem Zentralen Nervensystem und dem Rest des Körpers könne man sich vorstellen wie die doppelten Mauern und den Graben rund um eine Burg, erklärt Engelhardt. Geschützt im Innern liegen das Gehirn und das Rückenmark – empfindliche Nervenzellen, die immer gleichbleibende Bedingungen brauchen, mit elektrischen Signalen kommunizieren und nicht gestört werden dürfen. Entsprechend gibt es bei jeder der Mauern sowie im Burggraben eine strenge Eingangs- und Ausgangskontrolle. Funktioniert diese doppelte Barriere, gelangen nur die nötigen Nährstoffe hinein, die Abfallstoffe wieder hinaus.
«Seit Beginn meiner Karriere frage ich mich: Sind diese Veränderungen der Blut-Hirn-Schranken Ursache oder Folge der Krankheit?»
Britta Engelhardt
Doch bei Multipler Sklerose ist diese Barrierefunktion schon früh in der Krankheit gestört, Immunzellen dringen vermehrt in den Burggraben und ins Innere der Burg vor und machen uns krank. «Seit Beginn meiner Karriere frage ich mich: Sind diese Veränderungen der Blut-Hirn-Schranken Ursache oder Folge der Krankheit? Könnte man den Ausbruch der Krankheit vielleicht sogar verhindern, wenn man die Blut-Hirn-Schranken rechtzeitig stabilisieren könnte?»

Die erste Frau an der Spitze des Theodor-Kocher-Instituts
Diese Fragen liessen sie nicht mehr los und führten sie für ein Postdoc-Studium an die US-Amerikanische Universität Stanford, später zurück nach Deutschland, wo sie bald eine eigene Forschungsgruppe an einem Max-Planck-Institut übernahm.
2003 wurde sie an der Universität Bern nicht nur ordentliche Professorin für Immunbiologie: Sie übernahm als erste Frau die Leitung des renommierten Theodor-Kocher-Instituts.
«Als 39-jährige Frau hatte ich mir eigentlich keine realen Chancen ausgerechnet, diese Stelle tatsächlich zu bekommen», sagt Engelhardt. «Ich dachte, ich sei als Alibifrau eingeladen worden, und war vielleicht auch deshalb völlig tiefenentspannt.»
«Ich dachte, ich sei als Alibifrau eingeladen worden.»
Britta Engelhardt
Entsprechend erfreut sei sie gewesen, dass man ihr diese Chance gab. Sie kniete sich wieder in die Arbeit. Forschte weiter, ergründete Schritt für Schritt, Detail für Detail die Geheimnisse der Blut-Hirn-Schranken, mit immer besseren Maus- und Zellkultur-Modellen, immer besserer Bildgebung. «Anatomie ist heute zwar nicht mehr en vogue, aber sie ist unglaublich wichtig zum Verständnis der Krankheit», betont die Forscherin. «Wenn man die Architektur nicht versteht, dann ordnet man Prozesse falsch ein.»
Dass sie für ihre langjährige Grundlagenforschung kürzlich den mit 100’000 Franken dotierten Forschungspreis der Schweizerischen MS-Gesellschaft erhalten hat, freut sie sehr. «Ich war ein bisschen überrascht, da wir nicht an einem sexy neuen Thema arbeiten.»
Forschung über Landes- und Disziplingrenzen hinweg
Dass sie von «wir» spricht, ist bezeichnend. Denn während sie zu Grenzen und Barrieren forscht, hat sie seit Beginn ihrer Karriere immer wieder Grenzen überschritten, sich über Landes- und Disziplingrenzen hinweg vernetzt, Austausch und Zusammenarbeit gesucht – mit Kolleginnen und Kollegen aus Neurochirurgie, Molekularbiologie, Bioinformatik, Pathologie und Anatomie. Sie ist Vize-Präsidentin der «Internationalen Brain Barriers Society», koordinierte das EU-geförderte Doktoratsprogramm «Brain Barriers Training» und leitet derzeit das nationale Doktoratsprogramm «Zellmigration». Und an der Universität Bern baute sie über Jahre das «Microscopy Imaging Center» mit auf.
«Es ist super, wenn wir auch mal ans Nachbarsinstitut gehen und mit den Kolleginnen und Kollegen dort reden.»
Britta Engelhardt
Eigentlich aus der Not heraus, wie sie erzählt: Weil hochauflösende Elektronen- und Lichtmikroskope schnell Millionen kosten und auch deren Wartung sehr teuer ist, suchte sie auf Bitte des Dekans hin das Gespräch mit sämtlichen Instituten, die mit solchen Geräten arbeiten. Und nun nutze man sie gemeinsam. Es habe einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, aber der Aufwand habe sich gelohnt – nicht nur wegen der finanziellen Aspekte: «Es ist super, wenn wir auch mal ans Nachbarsinstitut gehen und mit den Kolleginnen und Kollegen dort reden.»
Engagement für die Gleichstellung
Neben ihrer Forschung engagiert sich Britta Engelhardt auch für Gleichstellung, als Präsidentin der Kommission für Chancengleichheit der medizinischen Fakultät. «Es gibt noch viel zu tun», sagt sie. «Es sind nicht einfach die ‹bösen› Männer und die ‹armen› Frauen, aber hartnäckige Stereotypen in den Köpfen von allen zementieren den Status quo.» So staune sie etwa darüber, wie schwer sich gewisse Kliniken bis heute damit tun, familienfreundliche Dienstpläne auszuarbeiten: «Wir haben KI, medizinischen Fortschritt – aber kriegen keine Dienstpläne hin, die Frauen und Männern mit Kindern ein 60-Prozent-Pensum ermöglichen.»
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Ihre eigene Woche umfasse regelmässig 60 Arbeitsstunden oder mehr, sagt Engelhardt. Ihre Abende enden oft spät, nicht selten sitze sie bis zehn Uhr mit Kolleginnen und Kollegen an einem Forschungsprojekt. «My work is my life», sagt sie. Momentan arbeitet sie bei einem Projekt mit einem modernen röntgenbasierten Bildgebungsverfahren mit, das es ermöglicht, im lebenden Tier einzelne Zellen sichtbar zu machen. Und so die unterschiedlichen Blut-Hirn-Schranken und ihre Veränderungen bei MS noch besser zu verstehen. «Dazu müssen wir nach Japan, nach Kanada oder Australien, und arbeiten mit Physikern und Mathematikern zusammen. Über diese neue Forschungsmöglichkeit bin ich gerade total begeistert!»