Der soziale Kitt der Schweiz wird poröser

Me-Time, Selbstverwirklichung und das Streben nach persönlichen Vorteilen schieben der Wir-Welt den Ich-Riegel vor.

Text: Markus Freitag 10. Januar 2025

Markus Freitag, Politkolumne

Vor einem halben Jahrhundert schreckte der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Putnam seine Landsleute mit seinen Beobachtungen über den Niedergang des sozialen Zusammenlebens in den USA auf. Seine Zahlen brachten ihn nicht ohne Grund bis ins Oval Office von Bill Clinton, denn die verheerenden Folgen dieser Entwicklung waren auch für den damaligen US-Präsidenten offensichtlich: Wenn die Menschen immer weniger miteinander verbunden sind, immer weniger aufeinander zugehen und ihre eigenen Ambitionen über die ihrer Mitmenschen stellen, wird die Gesellschaft zunehmend brüchiger und auch ohnmächtiger, ihre vielschichtigen Probleme zu bewältigen. Finden sich die amerikanischen Entwicklungen auch hierzulande? Setzt das soziale Gerüst des Miteinanders auch in der Schweiz Rost an? Was glauben Sie?

Die Sozialwissenschaften haben in den zwischenmenschlichen Beziehungen schon immer eine besondere Ressource gesehen und sie als Sozialkapital bezeichnet. Dieses Kapital wird als sozial bezeichnet, weil es aus den Beziehungen zwischen Menschen entsteht und nicht, weil die Güter sozial gerecht unter ihnen verteilt sind. Wir sprechen also vom Kapital des Sozialen und nicht vom Sozialen des Kapitals. Während das Humankapital in den Köpfen und das ökonomische Kapital auf den Konten der Menschen zu finden ist, spiegelt die soziale Vermögensform den Wert der sozialen Kooperation wider.

Der Grundgedanke des Sozialkapitals ist, dass sich Investitionen in unser soziales Umfeld immer auszahlen, sei es um Krisensituationen zu bewältigen, materielle Vorteile zu sichern oder einfach Zugehörigkeit zu geniessen. Was für das Individuum gilt, trifft umso mehr auf ganze Gruppen oder Gesellschaften zu. So wie Einzelpersonen beispielsweise von Vitamin B profitieren, haben Gemeinschaften mit hohem Sozialkapital klare Vorteile, wenn es um Demokratie, Wirtschaft, Gesundheit, Konflikte, Kriminalität oder Armut geht. 

Trotz all dieser reichlich dokumentierten Vorzüge kann man hierzulande leicht den Eindruck gewinnen, dass der in Vereinen, Nachbarschaften, Bekannten-, Freundes- oder Kolleginnenkreisen angerührte soziale Kitt poröser wird, der Gemeinschaftsgeist mehr und mehr verloren geht. Das kann nicht wirklich verwundern, denn der Megatrend der Individualisierung fördert den Ego-Trip und nicht die Sehnsucht nach mehr Gemeinsamkeit: Me-Time, Selbstverwirklichung und das Streben nach persönlichen Vorteilen und Einzigartigkeit schieben der Wir-Welt unweigerlich den Ich-Riegel vor. Der selbstbezogene Blick nach innen und die alternativlose Fokussierung auf die eigenen Befindlichkeiten verstellen zunehmend die Sicht auf das soziale Drumherum unseres Daseins. 

Dieser vermeintliche Verfall des Sozialkapitals spiegelt sich auch in den nackten Zahlen verschiedener Erhebungen und Statistiken der letzten Jahrzehnte wider: Die Menschen in der Schweiz – und hier vor allem die Jüngeren – ziehen sich immer mehr aus den Vereinen zurück und schränken ihre freiwillige und ehrenamtliche Arbeit für Organisationen und Institutionen ein. Gleichzeitig ist ein schleichender Rückgang der Kontakthäufigkeit wie auch der wahrgenommenen praktischen und emotionalen Hilfestellungen aus dem Kreis der Verwandten, der Nachbarschaft und der Freundinnen und Freunde zu beobachten. Und während vor rund 30 Jahren noch knapp ein Drittel die Selbstlosigkeit als wünschenswertes Erziehungsziel für Kinder deklarierten, hat sich die Zahl der Befürworterinnen und Befürworter dieser Eigenschaft im Laufe der Jahre halbiert. 

Das sind zweifelsohne verhängnisvolle Entwicklungen für eine Demokratie, die in ihrem Selbstverständnis und ihrer Identität wie keine andere auf das Mitmachen und die Zusammenarbeit ihrer Bürgerinnen und Bürger setzt. Diesem Abwärtstrend entgegenwirken und soziales Kapital aufbauen: Wäre das nicht ein guter Vorsatz für das neue Jahr?

Zweitveröffentlichung

Tamedia-Kolumnen auf uniAKTUELL

Die Tamedia-Kolumnen von Markus Freitag sowie von Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus erscheinen auch im uniAKTUELL.

Zum Institut für Politikwissenschaft (IPW) der Universität Bern

Das IPW ist eines der führenden politikwissenschaftlichen Institute der Schweiz und gehört gemäss CHE Excellence Einstufung zur Spitzengruppe in Europa. Es beheimatet ausgezeichnete Grundlagenforschung und praxisrelevante Auftragsforschung. Deren Kernbotschaften sind Bestandteile der angebotenen Studiengänge Bachelor «Sozialwissenschaften» sowie Master «Politikwissenschaft» und Master «Schweizer Politik und Vergleichende Politik». Schwerpunkte in der Lehre und Forschung sind schweizerische Politik, vergleichende Politikwissenschaft, europäische Politik, Policy Analyse, Klima-, Energie- und Umweltpolitik sowie die Einstellungs- und Verhaltensforschung im Rahmen der politischen Soziologie. Zudem offeriert das IPW Dienstleistungen für die Öffentlichkeit wie etwa das Année Politique Suisse.


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