Ein neues Parteiensystem für die Schweiz?

Die Parteien politisieren immer öfter an der Bevölkerung vorbei. Ein neues Parteiensystem stellt die Einstellungen der Bevölkerung ins Zentrum.

«SVP politisiert erneut an der Basis vorbei», hiess es im Herbst 2024 in der Schweiz. Das Nein zur BVG-Reform der SVP-Sympathisanten war wuchtig – trotz Ja-Parole. Derweil drohen der SP in den nächsten Monaten europapolitische Flügelkämpfe. Und die FDP-Leitung bleibt gefordert, die Interessen ihrer Klientel aus exportorientierten KMU, Kleingewerbe und multinationalen Konzernen unter einen Hut zu bringen.

Unser Parteiensystem droht in eine Repräsentationskrise zu schlittern. Weniger als 5 Prozent der Wählenden tragen ein Parteibuch. Fast drei Viertel sehen sich keiner Partei mehr verbunden, ein neuer Höchstwert. Die Bevölkerung nimmt die Parteien als die polarisierendsten Akteure überhaupt wahr. Und weil «Linkskonservative» politisch heimatlos sind, erklingen Rufe nach einer «Wagenknechtpartei». Deshalb fragen wir: Wie sollten sich die Parteien positionieren, um die Wählerinnen und Wähler bestmöglich zu vertreten?

Meinungen im Parteiensystem überlappen sich

Hierzulande hat unsere exklusive Auswertung Neuheitscharakter. Wie unlängst «Zeit Online» für Deutschland, entwerfen auch wir ausdrücklich keine «Fantasieparteien» auf dem Reissbrett. Stattdessen begreifen wir das als Ausgangspunkt, was in einer Demokratie die oberste Richtschnur sein sollte: die Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger – vom Klimaschutz über die Erhöhung des Rentenalters bis hin zur Frage, wofür der Staat wie viel Geld ausgeben soll. Hierfür nutzen wir Daten von rund 4800 Befragten aus der Schweizer Wahlstudie Selects 2023. Ein Clustering-Algorithmus sortiert die Befragten dann in Gruppen (bzw. Parteien), die sich in ihren Einstellungen möglichst ähnlich sind.

Schon der Befund zur optimalen Parteienzahl lässt aufhorchen: Spätestens seit Einführung des Verhältniswahlrechts 1917/1919 haben wir uns an ein Mehrparteiensystem gewöhnt. Der Proporz verhilft selbst kleinen und/oder nur regional verankerten Parteien zu Sitzgewinnen. Doch rein mathematisch wäre die Schweiz mit einem Zweiparteiensystem besser bedient. Denn die Bevölkerung ist sich einiger als gedacht. In vielen Sachfragen überlappen die Meinungen weitaus stärker, als es uns «Polarisierungsunternehmer» (Steffen Mau) in den Parteien glauben machen.

Ideal wären vier Parteien

Allerdings: Wo verschiedene Sprachgruppen und Religionen dicht beieinander leben, sind Mehrparteiensysteme vorteilhaft. Das zeigt die ältere politikwissenschaftliche Konfliktforschung. Wollte die Schweiz an der «Vielparteierei» festhalten, wären vier Parteien ideal – weniger als bisher, aber etwa so viele wie im ebenfalls mehrsprachigen Kleinstaat Luxemburg.

  • Grösste Partei würde die «Zentrumspartei». Deren Wählende tendieren zu einer eher traditionsbewahrenden Schweiz. Sie kennzeichnet ein gemässigter Mitte-rechts-Kurs: «Staat» und «Markt» begreifen sie nicht als Gegensätze. Auch Umwelt- bzw. Klimaschutz und Wirtschaftswachstum möchten sie nicht gegeneinander ausspielen. Bei den Sozialausgaben sind sie weder für einen Sparkurs noch für Mehrausgaben. Wer sich nun an die heutige Mitte-Partei erinnert fühlt, liegt nicht falsch – doch votiert die Wählerschaft der «Zentrumspartei» im Vergleich stärker gegen einen EU-Beitritt und Rentenalter 67.

  • Zweitstärkste Kraft würde die «Liberalprogressive Partei». Ihre Wählerschaft glaubt an die freie Marktwirtschaft. Gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen zeigt sie sich durchaus aufgeschlossen – etwa, wenn es um die vollständige Gleichberechtigung nicht heterosexueller Paare oder eine (vorsichtige) aussenpolitische Öffnung geht. Sie befürworten eine Rentenaltererhöhung und stemmen sich gegen einen nationalen Mindestlohn.

  • An dritter Stelle folgt die «Grünsoziale Partei». Deren Basis fordert soziale Gerechtigkeit, Klima- bzw. Umweltbewusstsein sowie Gleichberechtigung der Geschlechter, Menschen mit migrantischer Biografie und diversen sexuellen Orientierungen. Klimaschutz steht über ungebremstem Wirtschaftswachstum, eine regulierende Hand des Staates über entfesselten Marktkräften.

  • Und schliesslich wäre da die «Nationallibertäre Partei». Hier versammelt sich die dezidierte EU-Gegnerschaft, die für eine «Switzerland first»-Politik eintritt. Konservative Werte sind Trumpf. Die Wirtschaft soll brummen, der Staat so wenig wie möglich reglementieren. Sozialausgaben? So niedrig wie möglich behalten! 

Die «Wählerwanderung» von den aktuellen zu den idealen neuen Parteien zeigt die Schwächen des gegenwärtigen Parteiensystems: Die Anhängerschaft der bestehenden Parteien zerfällt in mehrere Blöcke, weil sich viele Wahlberechtigte heute nirgendwo so richtig zu Hause fühlen. Umgekehrt wird es für die Parteileitungen immer schwieriger, ein gradliniges, klares inhaltliches Profil zu entwickeln. Zu unterschiedlich, bisweilen widersprüchlich sind die Bedürfnisse ihrer Wählerschaft.

Innerparteiliche Demokratie in der Schweiz stärken

In den Worten des Politologen Constantin Wurthmann gleichen Parteien heute «eher einem vorgegebenen Menü» als «Essen am Buffet», an dem man sich nach Belieben eindeckt. Der Grund: Unser Parteiensystem entstand einst als Antwort auf die grossen Konfliktlinien und «fror» danach zeitweise ein. Einige dieser Gräben verloren an Sprengkraft (beispielsweise jene zwischen Staat und Kirche). Andere spiegelt es hingegen bisher kaum wider – so etwa jener zwischen Arm und Reich, der das Land laut Umfragen heute am stärksten spaltet.

Ein verspäteter Neujahrswunsch? Die innerparteiliche Demokratie stärken – und breite Bevölkerungskreise in der Schweiz dazu einladen, ihre Wünsche früher mitzuteilen als erst an der Delegiertenversammlung.

Zweitveröffentlichung

Tamedia-Kolumnen auf uniAKTUELL

Die Tamedia-Politkolumnen von Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus sowie Markus Freitag erscheinen auch im Online-Magazin der Universität Bern uniAKTUELL.

Zum Institut für Politikwissenschaft (IPW) der Universität Bern

Das IPW ist eines der führenden politikwissenschaftlichen Institute der Schweiz und gehört gemäss CHE Excellence Einstufung zur Spitzengruppe in Europa. Es beheimatet ausgezeichnete Grundlagenforschung und praxisrelevante Auftragsforschung. Deren Kernbotschaften sind Bestandteile der angebotenen Studiengänge Bachelor «Sozialwissenschaften» sowie Master «Politikwissenschaft» und Master «Schweizer Politik und Vergleichende Politik». Schwerpunkte in der Lehre und Forschung sind schweizerische Politik, vergleichende Politikwissenschaft, europäische Politik, Policy Analyse, Klima-, Energie- und Umweltpolitik sowie die Einstellungs- und Verhaltensforschung im Rahmen der politischen Soziologie. Zudem offeriert das IPW Dienstleistungen für die Öffentlichkeit wie etwa das Année Politique Suisse.


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