«Wie von der Tarantel gestochen»

Ein Tanzwahn und Besessenheitskult in Süditalien ist Forschungsthema der Sozialanthropologin Michaela Schäuble. Über den «Tarantismus» hat sie in Co-Regie einen bereits prämierten Film gemacht, der nun an den Solothurner Filmtagen Premiere feiert.

Interview: Barbara Spycher 21. Januar 2025

Eine «Tarantel-Besessene» in einer historischen Fotoaufnahme aus dem Jahr 1959 © Kontaktabzüge: Franco Pinna (1959)
Michaela Schäuble, worum dreht sich Ihr Dokumentarfilm «Tarantism Revisited»?

Michaela Schäuble: Um einen Besessenheitskult, bei dem sich die Betroffenen, meistens Frauen, wie von Sinnen gebärden: Sie tanzen, als wären sie von der Tarantel gestochen, und fallen in Trance. Dahinter steckt die Vorstellung, dass sie von einer Spinne gebissen wurden und tanzen müssen, bis das Gift aus ihrem Körper rausgeschwitzt ist.

Eine weitere «Tarantel-Besessene», historische Filmaufnahme aus dem Jahr 1962 © Gianfranco Mingozzi, La Taranta (1962)

Der Tarantismus ist eine öffentliche Aufführung von Leiden und ein religiöser Kult, der antike, heidnische Wurzeln hat und später vom Katholizismus überformt wurde. So wurde der Heilige Paulus der Schutzpatron der «Tarantate», also der «Tarantel-Besessenen», die tanzen bis zum Umfallen. Meistens waren es marginalisierte Frauen, die arm waren, nicht verheiratet werden konnten, als verrückt galten. Die wenigen Männer, die tanzten, waren ebenfalls gesellschaftliche Aussenseiter.

Die Frauen klettern in dieser historischen Filmaufnahme auf den Altar der Kapelle des Heiligen Paulus in Galatina © Kontaktabzüge: Franco Pinna (1959)

Der Tarantismus wird auch als kleiner Karneval der Frauen bezeichnet: Es ist ein Ventil, anhand dessen sie alle aufgestaute Wut rauslassen und kollektive Missstände, die sonst Tabu waren, anprangern konnten, seien es patriarchale Strukturen, Zwangsheiraten, die Unterdrückung weiblicher Sexualität oder Gewalterfahrungen.

Ihr Film stellt Frauen ins Zentrum, sie sind die Erzählerinnen und Tänzerinnen. Den feministischen Aspekt heben Sie in Ihrem Film allerdings nicht explizit hervor. Warum nicht?

Weil der Tarantismus zwar durchaus eine Form weiblicher Selbstermächtigung ist, aber halt auch eine Geschichte voller Leiden. Diese Frauen waren wirklich krank, sie haben gelitten. Deshalb wird es der Tragik nicht gerecht, wenn wir das im Nachhinein als feministische Selbstermächtigung oder Ausdruck von urweiblicher Kraft zelebrieren. Es bleibt eine öffentliche Aufführung von Leiden und von struktureller Ungerechtigkeit. Trotzdem oder gerade deswegen ist es ein feministischer Ansatz.

Wie ist die Idee zu diesem Film entstanden?

Über kurze Filme aus den 1950er Jahren, die den Tarantismus in einer Mischung aus Horrorfilm und Dokumentarfilm zeigen. Anja Dreschke, mit der ich den Film zusammen gemacht habe, und ich sind über den Italienforscher Thomas Hauschild auf diese Archivaufnahmen gestossen. Wir waren beide fasziniert von diesen Filmen und dem Kult, der ausserhalb Italiens weitgehend unbekannt ist.

Tarantate tanzen vor der Kapelle vor Schaulustigen © Gianfranco Mingozzi, Sulla terra del Rimorso (1982)

Als Sozialanthropologinnen hat uns interessiert, wie das Phänomen heute gelebt wird, und so sind wir 2012 an einen der apulischen Drehorte der alten Filme gefahren. Unser Film ist während vieler weiterer Besuche in den nächsten zehn Jahren entstanden.

Und was haben Sie vor Ort vorgefunden?

Im apulischen Galatina benutzen die Einheimischen die historischen Filme als Vorlage, um die frenetischen Tänze wiederaufzuführen. Das Re-Inszenieren der Besessenheits-Rituale sind sogenannte Reenactments. Dabei verschwimmt das Authentische mit der Inszenierung. Es ist nicht klar, ob und wann die heutigen Tänzerinnen aus der erlernten Choreographie in einen Trancezustand fallen.

Ausserdem haben wir kleinere, private Gruppen getroffen, die sich diesen Brauch angeeignet haben und weiterführen. Eine davon ist die 38-jährige Flavia, die wir in unserem Film zeigen. Sie sieht sich in der Tradition der «Tarantate». Sie tanzt sich ins Nichts, um ihre Seele zu befreien, um das Unsagbare auszudrücken, im Sinne einer Kur für Körper und Seele.

Das Resultat Ihrer langjährigen anthropologischen Forschung machen Sie über einen Film zugänglich. Was sind die Herausforderungen dieses Mediums?

Wie man einem solch facettenreichen Phänomen gerecht werden kann, ohne den Film zu einer bebilderten Powerpointpräsentation zu machen. Denn es gäbe ganz viel zu erzählen und an Hintergründen zu erklären. Wir verarbeiten unsere Forschung deshalb auch in einem Buch, wissenschaftlichen Artikeln und einer Website mit aufbereitetem Archivmaterial.

Und welche Chancen bietet ein Film?

Der grosse Gewinn ist, dass wir den Tanz, die Musik und ein Stück weit die Trancezustände in Ton und Bewegtbild transportieren können. In schriftlicher Form geht da viel verloren. Auch für die Inszenierung von Archivmaterial ist der Film eine Chance, weil man über die Montage andere Bezüge schaffen und Verbindungen sichtbar machen kann. Wenn man zum Beispiel die historischen Ritualaufnahmen und die heutigen Aufführungen hintereinander zeigt, werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich.

«Der Tarantismus ist eine Form weiblicher Selbstermächtigung, aber auch eine Geschichte voller Leiden.»

–    Michaela Schäuble

Ein Vorteil eines Films ist auch, dass man Personen viel weniger einordnen muss, als wenn man über sie schreibt. Mir war ganz wichtig, die «Tarantata» Michela Margiotta nicht zu pathologisieren und beispielsweise als schizophren oder Epileptikerin zu schubladisieren. Im Film sind wir freier. Wir lassen sie für sich selbst sprechen, indem ihre Briefe, die sie in den 1950er Jahren an eine junge Anthropologin geschrieben hat, vorgelesen werden. Darin erzählt Michela Margiotta, wie die Tarantel oder Heilige zu ihr sprechen, wie sie fühlt, wie ihr Alltag aussieht. Das sind unglaublich faszinierende Dokumente, weil sie die Perspektive einer «Tarantel-Besessenen» in ihren eigenen Worten sichtbar machen.

Jedes Jahr Ende Juni wurden die betroffenen Frauen in die Kapelle des Heiligen Paulus nach Galatina gebracht © Gianfranco Mingozzi, La Taranta
Wie präsent ist der Tarantismus heute noch in Apulien?

Er ist sehr präsent, aber in ganz unterschiedlichen Formen. Einerseits ist er zu einer folkloristischen Tradition geworden, die wiederbelebt wird. Auf jeder Piazza in Apulien können Einheimische und Touristen die Tarantella, den Tanz der «Tarantel-Besesssenen», erlernen. Ausserdem findet einmal jährlich die Notte della Taranta statt: Ein Massenevent, wo vor Zehntausenden von Zuschauenden die Musik des Tarantismus im Sinne einer Weltmusiktradition gespielt wird. Auch gibt es wie schon erwähnt kleine, private Gruppen, die sich das Trance-Ritual angeeignet haben, sowie die jährlichen Reenactments im grösseren Stil durch den «Club UNESCO». Diese öffentlichen Aufführungen weiblichen Leidens werden von manchen als Touristenattraktion oder Folklore kritisiert. Der Klub selbst sieht es als Chance, die regionale Tradition als wertvolles Alleinstellungsmerkmal und immaterielles Kulturerbe um- und aufzuwerten.

Luminarie, Festbeleuchtung in Apulien während des Heiligenfestes © Anja Dreschke (2022)
Welche vergleichbaren Traditionen existieren in anderen Ländern?

In Nordafrika gibt es interessante Besessenheitskulte, etwa Isawa in Marokko sowie Zar und Bori in Ägypten und dem Sudan. Oft sind besonders vulnerable Personen am Rande der Gesellschaft betroffen, mehrheitlich Frauen. Es sind meist Geister, als unrein geltende Tiere oder die weissen Kolonialisten, die von ihnen Besitz ergreifen. Es ist immer etwas, was verdrängt wird oder Angst macht. Trance- oder Besessenheitskulte laufen nach einem bestimmten Muster ab: Meist finden sie öffentlich statt, in einem Kreis. Dort müssen die Betroffenen die Entität, die von ihnen Besitz ergriffen hat, ausagieren. Dabei spielen Musik und Tanz eine wichtige Rolle, und schnelle Schritte nach vorne, eine Art Headbanging oder andere Formeln in der Gruppe beschleunigen einen Trancezustand. Nach diesem Ritual gilt die Ordnung als wiederhergestellt.

Worauf freuen Sie sich bei der Premiere Ihres Films in Solothurn?

Auf die Zuschauenden, die sich auf unseren experimentellen Film einlassen. Denn er lässt Raum für eigene Interpretationen vom Tarantismus als rational nicht ganz fassbares Phänomen. Und ich freue mich auf den Präsidenten des apulischen Klubs, der anwesend sein wird und den Tarantismus von der Unesco als immaterielles Kulturerbe anerkennen lassen möchte. Es ist immer schön, wenn Protoganisten anwesend sind.

Video Preview Picture

Der Film wird an den Solothurner Filmtagen am 24.1.25 um 20:15 Uhr sowie am 27.1.25 um 12 Uhr gezeigt.

Ausgezeichneter Dokumentarfilm

Die beiden Sozial- und Medienanthropologinnen Michaela Schäuble und Anja Dreschke haben das Drehbuch zu diesem essayistischen Dokumentarfilm geschrieben, gemeinsam Regie geführt und zeichnen auch für die Archivrecherche (Schäuble), Kamera und Montage (Dreschke) verantwortlich. Der Film feiert an den Solothurner Filmtagen Schweiz-Premiere und wird am 24.1.2025 um 20:15 Uhr sowie am 27.1.2025 um 12 Uhr gezeigt.

Ende letzten Jahres wurde «Tarantism Revisited» an der DOK Leipzig, dem Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, ausgezeichnet: mit der «Goldenen Taube» für den besten langen Dokumentarfilm im deutschen Wettbewerb. Kürzlich wurde er zudem für den Preis der Deutschen Filmkritik in der Kategorie Bester Dokumentarfilm nominiert.

«Tarantism Revisited» wurde im Rahmen des Agora-Programmes vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt. Mit diesem Instrument werden Projekte von Schweizer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gefördert, die ein breites Publikum anvisieren, um den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu fördern.

https://www.tarantism-revisited.net/

Michaela Schäuble

Bild: Dres Hubacher

ist Professorin für Sozialanthropologie mit Schwerpunkt Medienanthropologie an der Universität Bern und Mitbegründerin von Ethnographic Mediaspace Bern. Sie forscht unter anderem zu Trancezuständen und ekstatischen Heiligenkulten.

Kontakt: Prof. Dr. Michaela Schäuble, michaela.schaeuble@unibe.ch

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