Die neuen Gastarbeiter sind digital und multilokal

Seit der Pandemie ist es für viele von uns selbstverständlich, tageweise unser Büro am Küchentisch zu installieren. Beliebt ist auch, für zwei, drei Tage in die Berge zu reisen, um dort in Ruhe Pendenzen abzuarbeiten. Noch offen ist, wie viel die neuen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter den Berggebieten bringen.

Homeoffice in den Bergen @ pixabay
Wer konzentriert arbeitet, muss zwischendurch das Hirn lüften. Im städtischen Büro hilft womöglich der Gang zur Kaffeemaschine oder eine Rauchpause. Besser hat es, wer in einer landschaftlich inspirierenden Umgebung in den Bergen arbeitet: Zaubert hier nicht schon ein viertelstündiger Spaziergang von selbst neue Ideen auf den Bildschirm? Und wer sich abends nicht ins überfüllte Tram quetschen muss, sondern den Tag mit dem Alpenglühen ausklingen lässt, dürfte definitiv leistungsfähiger sein. Während des Lockdowns schauten wir neidisch auf die Arbeitskollegin, die mitsamt Laptop in ihre Zweitwohnung in den Bergen zog. Als dann die Homeofficepflicht aufgehoben wurde und die Schulen wieder offen waren, hatten einige dieser Privilegierten ihren zweiten Arbeitsplatz schätzen gelernt. Zumindest tageweise oder für ein verlängertes Wochenende nutzen sie weiterhin die relative Abgeschiedenheit, kombiniert mit starkem Internet.

Die Ferienwohnung ist auch ein Büro

Was sich in der Praxis für viele bewährt hat und heute für einige zum festen Arbeitsmodus gehört, bezeichnet Reto Bürgin als «digitale Multilokalität»: In seiner Dissertation aus dem Jahr 2021 analysiert er die Stadt-Land-Beziehungen im Kontext des digitalen Wandels und digitaler Multilokalität in Schweizer Alpenregionen. Bürgin untersucht nicht nur die Funktionsweise von halböffentlichen Büroarbeitsplätzen wie Co-Working-Spaces, wie sie inzwischen auch in vielen peripheren Kleinstädten und Dörfern entstanden sind. Er illustriert auch die Möglichkeiten, den Arbeitsplatz tageweise in die Berge zu verlegen. Die Schweiz hat diesbezüglich beste Voraussetzungen: Mit Bahn, Bus oder Privatauto ist hierzulande fast jeder Ort in drei Stunden von den grossen Zentren aus erreichbar. Und punkto Erschliessung mit Breitbandinternet nimmt unser Land weltweit einen Spitzenplatz ein.

Längst nicht für alle machbar

Theoretisch ist diese digitale Multilokalität, also an verschiedenen Orten digital aktiv und damit auch beruflich tätig zu sein, für jede zweite Person im erwerbsfähigen Alter möglich. Seit der Pandemie dürfte der Anteil der Beschäftigten, die remote arbeiten, sogar noch gestiegen sein. Dennoch werden die meisten nach wie vor einen oder zwei Tage im «klassischen» Homeoffice und nicht im Alpendomizil arbeiten. «Mit familiären Verpflichtungen ist es sehr anspruchsvoll, jede Woche eine grössere Distanz für die Arbeitstätigkeit zurückzulegen», bilanziert Bürgin. Für ein Teilprojekt in seiner Dissertation hatte er sechs Personen ausführlich zu ihrer digitalen Multilokalität befragt, die Geo- und Zeitdaten sowie die verwendeten Programme getrackt und die Ergebnisse mit dem Aufenthaltsort verknüpft. Dazu kamen ein Raum-Zeit-Tagebuch plus Interview und teilnehmende Beobachtung. Zwei der Teilnehmenden hatten minderjährigen Nachwuchs – diesen zu betreuen, erforderte viel Planung. «Seit ich selbst zwei kleine Kinder habe, weiss ich, wie kompliziert es ist, sich eine solche Auszeit von Büro und Wohnung zu organisieren», erklärt Bürgin. Ähnlich dürfte es für Arbeitnehmende sein, die in ihrer Freizeit Betagte betreuen.

Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der Übernachtungsfrage. Kaum ein Arbeitgeber wird den Aufwand für Kost und Logis übernehmen, wenn es für die Beschäftigten keinen Grund gibt, sich physisch in den Bergen aufzuhalten. Die eigene Ferienwohnung oder die Möglichkeit, sich bei Freunden oder Bekannten einzuquartieren, sind somit eine Voraussetzung für alpine Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter. Und das wiederum schränkt den Personenkreis auf eine eher privilegierte Klientel ein.

Gesucht wird eher Abgeschiedenheit als Austausch

Doch was spricht überhaupt für das Exil auf 2000 Metern über Meer? «Gewisse Co-Working-Spaces haben früher damit geworben, Bergluft mache kreativ und erlaube einen buchstäblich weiten Blick», erzählt Bürgin. Dabei gelte eher das Gegenteil: Für Kreativität brauche es das Team, und das sitze in der Regel im Büro im Unterland. Der Aufenthalt fernab von den Störungen des Büroalltags eigne sich somit eher für ein konzentriertes Abarbeiten von Pendenzen (siehe Kasten unten).

Was ist hier echt, was ist fiktiv? Dieses Bild haben Fotograf Dres Huchacher und Grafiker Eric Zankl mithilfe einer künstlichen Intelligenz erstellt. Mehr dazu hier.

Büro vs. Berge

Konzentration oder Kreativität

Neue Umgebung, neue Inspiration – in den Bergen fliegt einem die Kreativität nur so zu, könnte man meinen. Doch die Befragungen im Rahmen der Dissertation von Reto Bürgin, die vom Nationalfonds unterstützt wurde, kommen zu einem anderen Schluss: Kreativität ergibt sich aus der persönlichen Begegnung im Team. Wer zusammen brütet, streitet und die beste Lösung sucht, findet neue Ideen und entwickelt innovative Projekte.

Der Rückzug in die selbst gewählte Isolation in den Bergen dient dann eher dazu, diese Aufgaben und weitere Pendenzen abzuarbeiten. Man kann zwar E-Mails lesen und schreiben und Telefonanrufe entgegennehmen, ist aber nicht von physischen Kontakten mit Kolleginnen und Kollegen abgelenkt. Von Sitzungen dispensiert man sich oder nimmt höchstens virtuell teil. Um sich von der Konzentration zu erholen, lockt gleich vor dem Büro eine attraktive, nicht alltägliche Landschaft. Das verbessert die Leistungsfähigkeit zusätzlich.

Die Arbeitgebenden müssen darauf achtgeben, dass die Arbeit aus Distanz nicht auf Kosten der Kreativität geht und das Team auseinanderdriftet. Um wieder ein Wir-Gefühl zu schaffen, hilft womöglich eine Retraite mit der ganzen Belegschaft – beispielsweise in den Bergen: In einem solchen Rahmen arbeitet man anders, unterbricht die kreativen Phasen durch Ungewohntes und profitiert von der aussergewöhnlichen Umgebung.

Wenn die Unterländer am Mittwochabend anreisen und am Freitagabend den Laptop schliesslich zuklappen, haben sie zwar etwas Alpenluft geschnuppert und womöglich ein lokales Souvenir im Gepäck verstaut. Doch wie weit fühlen sie sich ihrem temporären Arbeitsort verbunden? Heike Mayer, Professorin für Wirtschaftsgeografie, sieht hier Nachholbedarf: «Wer bewusst nur zum Arbeiten in die Peripherie fährt, sucht kaum den Austausch mit den Einheimischen und interessiert sich auch wenig für seine Umgebung.» Um dieses Manko zu kompensieren, müsse die Standortgemeinde aktiv werden und auf sich und ihre Angebote aufmerksam machen.

Die Konsequenz daraus kann, muss aber nicht bedeuten, dass die Gemeinde selbst ein Co-Working-Space betreibt. Hilfreich ist schon, wenn zusätzliche Dienstleistungen offeriert werden. Das kann ein Buchungspaket von Arbeitsplatz und Unterkunft sein für jene, die sich nicht ohnehin einfach in die eigene Zweitwohnung zurückziehen. Nützlich sind auch massgeschneiderte Erholungsangebote für Gäste, die bloss wenig Zeit haben, um zwischen ihren Arbeitsblöcken die Vorzüge der alpinen Natur zu geniessen. Oder man bewirbt Coiffeur und Masseuse, um die lokale Wertschöpfung durch die Stadtpendlerinnen und -pendler zu steigern. Doch womöglich suchen die «digitalen Multilokalen» gar nicht den organisierten Zeitvertreib, sondern schätzen eben gerade die Abgeschiedenheit und damit die Freiheit, die in der Stadt so rar geworden ist.

Der Co-Working-Space als Etappenhalt

Co-Working-Spaces sind prädestiniert dafür, neue Arbeitsformen auszuprobieren. Jener, der in Glarus Süd geplant ist, wird in eine Liegenschaft eingemietet sein, in der sich auch eine Gesundheitspraxis und ein Mehrgenerationen-Wohnprojekt befinden wird. Damit kann man «en passant» die Arbeit mit dem Arztbesuch verbinden oder neue Kontakte knüpfen.

«Für Kreativität braucht es das Team, und das sitzt in der Regel im Büro im Unterland.»

Reto Bürgin

Umgekehrt kann auch die Bergbevölkerung selbst von den digitalen Möglichkeiten profitieren, indem sie weiterhin in den Alpen wohnt und beispielsweise für zwei Tage pro Woche zum Firmensitz ins Mittelland fährt. Eine von Bürgin begleitete Person praktizierte diese Arbeitsform. «Sie nutzt die Arbeit im Kollektiv für kreative Treffen, während sie in ihrem Heimatdorf ungestört von Sitzungen und Unterbrüchen die neuen Aufgaben abarbeitet.» Ein Zwischending ist der Co-Working-Space in Meiringen: Er dient vielen, die in der Peripherie von Bern wohnen und die Fahrt in die Bundeshauptstadt abkürzen wollen, als nahes externes Office.

Wohin die digitale Reise in den Bergen geht, will ein nächstes Forschungsprojekt des Geografischen Instituts ergründen. Es wird die sehr unterschiedlichen Ansätze für die Entwicklung multifunktionaler Hubs vergleichen, wie sie Projekte in Glarus Süd, der Surselva, La Punt (GR) und Albinen (VS) verfolgen. «Schon jetzt ist klar, dass uns multilokales Arbeiten und Wohnen häufiger und über grössere Strecken mobil sein lässt», wie Heike Mayer einräumt. Auch der Raumbedarf nehme tendenziell zu. Denn der Erwerb einer Zweitwohnung wird attraktiver, wenn man sie auch als Zweitbüro nutzen kann. «Doch für den Ferienwohnungsboom sind andere Treiber wichtiger», relativiert Mayer. Es liege nun an den Berggebieten, die Vorzüge der Landschaft auch monetär in Wert zu setzen. Werden die neuen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter eingebunden, profitieren nicht nur sie selbst, sondern auch die Gemeinden – vom Wissensaustausch und von einer höheren Wertschöpfung.

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