Nachhaltige Lehre
Bauabfall ist der Beton von morgen
Unser Abfall besteht zu 90 Prozent aus Aushub- und Rückbaumaterial von Baustellen, Strassen und Gebäuden. Wie mit neuen Methoden der Kreislaufwirtschaft Ressourcen, Landschaft und Klima geschont werden, lernen Studierende der Geologie vor Ort.
Es riecht wie auf einem staubigen Feldweg im Hochsommer. Doch um uns herum ist es bitterkalt, wir befinden uns in einer modernen Industriehalle. Rumpelnd transportieren breite Förderbänder Kies in verschiedener Körnung an uns vorbei. Von einer gelb lackierten, vertikal montierten Metallschnecke rinnt wässriger Sand ins tiefergelegene Geschoss.
Daneben rüttelt ein Konstrukt kompakte, schwarze Erde so lange, bis sie zu kleinen Brocken zerfällt. Gleich auf fünf Stockwerken werden in der grauen Halle der Vito Recycling AG Aushub, Strassensammelgut und Bohrschlämme aufbereitet. Bei diesem Joint-Venture des Zementherstellers Vigier AG und des Bau- und Rückbauunternehmens Toggenburger AG in Péry (BE) landen Kies und Erde, die aufgrund ihrer Belastung mit Schwermetallen oder organischen Schadstoffen erst entgiftet werden müssen.
Modernste Bodenwaschanlage der Schweiz
Vor einem halben Jahr ging diese modernste Bodenwaschanlage der Schweiz in Betrieb. «Ausgelegt ist der Prozess auf 130 Tonnen Material pro Tag, doch im Moment stehen wir erst bei einem Viertel der Leistung», sagt Gérard Tschanz. Der Leiter der Anlage führt die 20 Master-Studierenden der Lehrveranstaltung «Waste Materials and Circular Economy» am Institut für Geologie durch die lärmende und vibrierende Halle.
Erst draussen ist es wieder möglich, Fragen zu stellen und sich den vielstufigen Prozess erklären zu lassen: Der Aushub wird mit Lastwagen aus der ganzen Region hierher gefahren. Ein komplexes Zusammenspiel aus Sortier- und Waschprozessen trennt mit Magneten, Wirbelstromabscheidern und weiteren Maschinen Störstoffe wie Metalle, Holz, Plastik und Keramik ab. Zurück bleiben sauberer Recyclingkies und -sand, die wieder zu Beton verwertet werden können.
Die organischen Schadstoffe des Aushubmaterials werden während des Waschprozesses im Feingut angereichert. Daraus entsteht der sogenannte Filterkuchen, also gefiltertes und entwässertes Sediment, das im 500 Meter entfernt stehenden Zementwerk der Vigier AG als Rohmaterialersatz genutzt wird.
Landschaft und Klima schonen
Die in der Vito AG praktizierte Technik ist eine ausgeklügelte, aber enorm aufwändige Methode, um die Kreislaufwirtschaft im Bereich der mineralischen Abfälle zu fördern. Angesichts der 700'000 Tonnen Kalk und 300'000 Tonnen Mergel, die allein die Zementfabrik Vigier pro Jahr zu Klinker verarbeitet, liefert Vito nur einen Bruchteil des Ersatzmaterials. «Doch es ist ein Beispiel dafür, dass in der Verwertung von mineralischem Abfall das grösste Potenzial liegt, um die Kreislaufwirtschaft hierzulande zu stärken», erklärt Mirjam Wolffers von der Fachstelle Sekundärrohstoffe am Institut für Geologie der Universität Bern. «90 Prozent des Abfalls entfallen in der Schweiz auf diese Kategorie, entsprechend gross ist der Hebel.»
Wolffers verweist auf den mehrfachen ökologischen Effekt, wenn Bauschutt oder Aushub nicht deponiert, sondern als Sekundärrohstoff genutzt wird. Erstens wird durch die erneute Verwendung die Landschaft geschont, weil sich der Steinbruch nicht weiter in den Berg frisst. Zweitens muss dieser Abfall nicht deponiert werden – in den nächsten Jahrzehnten kommen auf die Schweiz Deponieengpässe zu. Drittens spart die Verwertung von Sekundärrohstoffen gegenüber dem Neuabbau oft Energie und vermeidet CO2-Emissionen.
Nachhaltigkeit in allen Studiengängen: Serie in uniAKTUELL
Alle Studierenden der Universität Bern sollen sich im Lauf ihres Studiums mit Nachhaltigkeit auseinandersetzen. Die Universität Bern integriert Nachhaltige Entwicklung deshalb in die Lehre aller Fakultäten und Fachrichtungen und unterstützt die Dozierenden dabei, entsprechende Veranstaltungen zu konzipieren. uniAKTUELL zeigt in einer losen Serie konkrete Beispiele.
Kunstgeschichte: Studierende zeigen Lösungen für nachhaltiges Bauen
Zementwerke produzieren sehr viel CO2
Der letztgenannte Effekt ist in der Zementindustrie von zentraler Bedeutung, bestätigt Mathieu Antoni, Umweltverantwortlicher der Vigier AG: «Wir bauen hier pro Jahr eine Million Tonnen Kalkstein und Mergel ab, gewinnen daraus aber nur 600'000 Tonnen Klinker, mit dem wir dann den Zement erzeugen.» Die Differenz von 400'000 Tonnen ist Kohlendioxid: Beim Brennen des Zements bei 1450 Grad entweichen enorme Mengen an CO2, die im Kalkstein gebunden waren, in die Atmosphäre. Die Suche nach alternativen Rohmaterialien, welche die CO2-Bilanz verbessern, hat daher höchste Priorität. «Ganz ohne Emissionen wird es wohl nie gehen. Eine Überlegung ist, das Klimagas am Ende des Hochkamins abzuscheiden und langfristig zu binden, so dass es nicht in die Atmosphäre entweicht», erklärt Antoni und deutet auf den imposanten Kamin mit roter Spitze. Die Kosten dafür sind allerdings hoch. Weltweit stossen Zementwerke viermal so viel Klimagase aus wie der Luftverkehr. In der Schweiz sind die sechs Werke für fünf Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich.
Ideal wäre, man könnte nicht nur den Mergel, sondern auch den Kalkstein durch Sekundärrohstoffe ersetzen. «Das Problem ist, dass es auf dem Markt nur wenig mineralische Abfälle mit viel Kalzium gibt, die man in Zementwerken einsetzen könnte», sagt Gisela Weibel, Bereichsleiterin Verbrennungsrückstände und Deponien der Fachstelle Sekundärrohstoffe am Institut für Geologie der Universität Bern, und verweist so auf ein Hindernis, die Zementwerke noch stärker in die Kreislaufwirtschaft einzubinden. Eine mindestens so grosse Hürde ist, dass teilweise noch beachtliche Vorräte an frischem Kalkstein zur Verfügung stehen. Vigier beispielsweise hat sich in Péry Abbaurechte für die nächsten 100 Jahre gesichert.
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Beim Brennstoff funktionieren die Alternativen
Beim Brennstoff übrigens hat Vigier den Wandel schon fast komplett vollzogen. «Hier verwenden wir nur noch ein, zwei Prozent Kohle und Leichtöl, den Rest decken wir mit alternativen Brennstoffen ab», erklärt Antoni stolz. Während noch vor ein paar Jahrzehnten in erster Linie Kohle verbrannt wurde, setzt die Schweizer Zementindustrie im Allgemeinen und Vigier im Besonderen auf Abfallstoffe mit hohem Brennwert wie Altöl, Lösemittel, Altplastik, Tiermehl und Altholz. Sogar der Staub aus der Schweizer Tabakindustrie fand einst den Weg nach Péry, wie ein so etikettiertes Glas im Besucherraum zeigt.
Die Annahme all dieser Materialien ist eine Wissenschaft für sich. Antoni erklärt, wie täglich Proben genommen und im eigenen Labor analysiert werden, damit die Grenzwerte etwa von Chlor oder organischen Schadstoffen eingehalten werden.
Besuch zeigt die Zusammenhänge auf
Das aktuelle Pech der Betreiberfirma – eine Havarie – ist unser Glück: Wir haben die seltene Gelegenheit, einen Blick in den Drehrohrofen zu werfen, ein Ungetüm von 4,4 Metern Durchmesser und einer Länge von 68 Metern. Auch hier riecht es nach Staub, aber es sind feine Stäube des Zementklinkers, die eine dünne Schicht auf dem Boden bilden und alle Rohre, Armaturen und Blechwände, Förderanlagen, Lifte und Roste in ein monotones Anthrazit tauchen.
Beeindruckt von den Möglichkeiten, mineralische Abfälle in den Materialkreislauf einzuschleusen, ist auch Jana von Allmen, die an der Universität Bern demnächst ihren Master in Erdwissenschaften abschliesst. Bei ihrer Stelle in einem Planungs- und Baubegleitungsbüro, wo sie neben dem Studium Teilzeit arbeitete, hatte sie immer wieder mit Bodenanalysen zu tun. «Doch dass die exakte chemisch-mineralogische Zusammensetzung oder die Feuchte einen direkten Einfluss auf die Verwertung von Aushub haben, war mir damals nicht bewusst.» Zwar zieht von Allmen demnächst weiter an die Pädagogische Hochschule. Trotzdem nimmt sie aus Péry etwas mit: «Die Betreiber bieten auch Führungen für Schulklassen an, das merke ich mir. Eine solche Anlage zeigt sehr anschaulich, wie sogar verschmutzter Bauabfall nach einer Aufbereitung wiederverwertet werden kann.»
Förderung Nachhaltige Entwicklung durch Bildung
Über das Fördergefäss FNE (Förderung Nachhaltige Entwicklung durch Bildung) können Mitarbeitende der Universität Bern Ressourcen beantragen, um nachhaltigkeitsrelevante Bildungsprojekte an der Universität Bern zu entwickeln. Konkret sollen unterschiedliche Themen mit einer Nachhaltigen Entwicklung (NE) verknüpft werden, nachhaltigkeitsrelevante Kompetenzen gefördert oder Reflexionsprozesse für eine NE angestossen werden.
Die FNE-Förderung ist Teil des Projekts «Bildung für Nachhaltige Entwicklung » der Universität Bern. Dieses Projekt unterstützt das Vizerektorat Qualität und Nachhaltig Entwicklung darin, NE stärker in die Bildung der Universität zu integrieren. Es zeigt sowohl verschiedene disziplinäre als auch interdisziplinäre Verknüpfungen mit NE auf und unterstützt die Fakultäten und Institute darin, diese Verbindungen zu verstärken und nach aussen sichtbar zu machen. Neben der FNE werden diverse Unterstützungsangebote wie Arbeitsmaterialien oder Dienstleistungen vom BNE-Team des Centre for Development and Environment (CDE) zur Verfügung gestellt.
«Es braucht den Mut, neue Wege einzuschlagen»
Die Universität Bern, die Berner Fachhochschule, die PHBern und die PH NMS wollen gemeinsam «Bildung für Nachhaltige Entwicklung» stärken: Studierenden sollen komplexe Probleme der Gegenwart und Zukunft verstehen und angehen können. Lilian Trechsel erklärt, was bereits gut funktioniert und was noch ansteht.
Studierende zeigen Lösungen für nachhaltiges Bauen
Was haben Architektur und Design mit der Umwelt zu tun? In einem Praxisseminar setzten sich Studierende mit Nachhaltigkeitskulturen auseinander. Ihre Erkenntnisse machen sie mit Video-Vorträgen einem breiten Publikum zugänglich. Ein Werkstattbesuch.
Sprechen wir über Abfall!
Mit Abfall werden wir jeden Tag konfrontiert. Gleichzeitig ist unser Umgang mit Abfall mit Tabus, Ängsten und Vorurteilen behaftet. Doktorierende der Universität Bern erforschen unsere eigenartige Beziehung zu den ungeliebten Überbleibseln – und sorgen so für Gesprächsstoff.